Holger Afflerbach
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
06. November 2017
Schwerpunktthema: 
DOI: 
10.15500/akm09102017

Was wollte Erich von Falkenhayn durch die Schlacht vor Verdun erreichen? Diese Frage hat der "Oberste Kriegsherr" Wilhelm II. im Gespräch mit Oberstleutnant Alfred Niemann wie folgt beantwortet: "Wir erstrebten den Gewinn einer Linie, aus der wir Verdun tötlich[!] bedrohten; einer Linie, die günstig war, um die bestimmt zu erwartenden französischen Gegenangriffe für die Franzosen möglichst verlustreich zu gestalten." 1 Dies war, ganz exakt formuliert, der Grundgedanke des Angriffs vor Verdun.

Doch war dies wirklich das Ziel der Operation? Die Äußerung Wilhelms II. hat einen Nachteil: Sie stammt aus der Zwischenkriegszeit (25.2.1934) und kann daher verfälscht sein. Der Kaiser könnte eine Interpretation geliefert haben, die wiederum auf die Debatte um die Schlacht vor Verdun zurückgeht, die Falkenhayn mit seinen Schriften von 1919 und der "Ausblutungstheorie" selbst maßgeblich geprägt hatte. 2

Es ist nicht nötig, auf Falkenhayns Schriften oder nachträgliche Äußerungen anderer Beteiligter zurückzugreifen, da wir über eine ausreichende Zahl von Quellen verfügen, die uns über die Entschließungen Ende 1915/Anfang 1916 Auskunft geben. Ich habe einige in meiner Falkenhayn-Biographie aufgelistet. 3 Unter ihnen sind beispielsweise die Protokolle von einer Besprechung der Generalstabschefs aller Armeen des Westheeres am 11. Februar 1916 in Mézières. 4

Aus diesen Quellen können folgende Argumente herausgezogen werden:

1. Falkenhayn hielt einen Durchbruch an der Westfront für unmöglich und wiederholte dies vielfach. Wir könnten hier von einer "Falkenhayn-Doktrin" sprechen. 5

2. Er wollte trotzdem die Westfront wieder in "Bewegung" bringen. 6

3. Diese Ziele widersprachen sich, und Falkenhayn wußte das. Er sah das Problem der deutschen Strategie darin, nicht einfach abwarten zu können (Angst vor dem Erschöpfungskrieg), und daher "mit verhältnismäßig bescheidenem eigenem Aufwand dem Gegner schweren Schaden an entscheidender Stelle" zufügen zu müssen. 7

4. Der Angriff vor Verdun sollte nicht zur Eroberung der Stadt selbst führen, zumindest nicht im ersten Schritt. Es ging um die der Stadt vorgelagerten Höhenlinien auf dem Ostufer der Maas. Dies geht aus dem Angriffsentwurf der 5. Armee vom 4. Januar 1916 klar hervor, der das Ziel wie folgt formulierte: "Wer im Besitz der Côtes (Höhen bis zu beinahe 400 m) auf dem Ostufer der Maas ist, indem er die auf ihnen gelegenen Befestigungen erobert hat, ist auch im Besitze der Festung [[...]]; selbst wenn zunächst auf eine Besitznahme der Werke des Westufers verzichtet werden soll, hat die Festung ihren Wert für Frankreich verloren, wenn das Ostufer der Maas von uns genommen ist." 8

5. Es wurde, durch die militärische Natur der Vorbereitungen, eindeutig, daß Falkenhayn vor Verdun eine Artillerieschlacht plante, in der Artillerie, nicht Infanterie die Hauptrolle spielen sollte. Der Angriffsentwurf sprach von "der erprobten Wirkung der schweren und schwersten Artillerie". 9 Der Aufwand an Artillerie und Munition war sehr groß, die Infanterie knapp bemessen. 10

6. Der Angriff auf die Côtes vor Verdun war für Falkenhayn nur der erste Schritt, aus dem sich anderes ergeben sollte. Wilhelm Groener schrieb am 11. Februar 1916: "General v. Falkenhayn ist der Ansicht, daß die Entscheidung im Westen fallen müßte, als erster Schritt hierzu der Angriff auf Verdun." 11

7. Falkenhayn hoffte und erwartete einen überhasteten englischen Entlastungsangriff, zu dessen Abwehr er einen Großteil seiner Heeresreserve hortete. Ob dieser "Gegenstoß" als Durchbruch geplant war? Den letzteren hatte Falkenhayn für unmöglich erklärt (siehe 1, Falkenhayn-Doktrin), außerdem hatten alle Studien übereinstimmend ergeben, daß für einen Durchbruch 20-30 Divisionen benötigt wurden. 12 Bei den verschiedenen Gegenstoß-Überlegungen (3. Armee, 6. Armee) setzte Falkenhayn aber sehr viel bescheidenere Größen wie fünf, sechs, oder acht Divisionen an. 13 Außerdem wurde seine Hoffnung auf einen britischen Entlastungsangriff von Kronprinz Rupprecht und Hermann von Kuhl (6. Armee) für unbegründet gehalten.

Schon die Zeitgenossen wie Kronprinz Rupprecht klagten über die vage und widersprüchliche Natur dieser Pläne. Sie lehnten vor allem die Hoffnungen auf den englischen Gegenangriff und dessen Abwehr durch einen Gegenstoß ab. Ich selbst bin der Ansicht, Falkenhayns Spekulationen und Hoffnungen über die weiteren Entwicklungen, die sich aus einem Erfolg vor Verdun ergeben sollten, entziehen sich der Möglichkeit einer genauen historischen Analyse. 14 Nur der erste Schritt, der Angriff auf die Côtes vor Verdun, wurde Wirklichkeit, und ist daher besser zu fassen. Die Frage ist nun, wie Falkenhayn sich diesen ersten Schritt ursprünglich vorgestellt hatte. Aus den genannten Argumenten können folgende Schlußfolgerungen gezogen werden:

1. Falkenhayn wollte den Franzosen durch Artillerie "schweren Schaden an entscheidender Stelle" zufügen. 15

2. Falkenhayn, und auch das Oberkommando der 5. Armee, rechneten damit, dass die Franzosen den Vorstoß auf Verdun massiv kontern, also keinesfalls Verdun einfach aufgeben würden. Knobelsdorf nahm an, daß die 5. Armee "auf dem östlichen Maas-Ufer mit mindestens der halben französischen Armee würde kämpfen müssen." 16 Auch Falkenhayn glaubte, "daß sie alle verfügbaren Kräfte dorthin ziehen würden. [...] Wahrscheinlich würde eine Verteilung von Parade und Stoß dahin stattfinden, daß die Franzosen Verdun mit allen Kräften hielten und die Engländer zu einer Entlastungsoffensive veranlaßten." 17

3. Als "Nebenziel" bezeichnete Falkenhayn die Ausschaltung der Gefahr, die die Festung Verdun für die deutschen Linien bedeutete ( in seiner "Weihnachtsdenkschrift"). 18 Wild nannte es, in seiner üblichen burschikosen Ausdrucksweise, den "Backzahn Verdun auszuziehen". 19

4. Was das Motiv für den Angriff anging, ein weiteres Argument: Warum wollte Falkenhayn Festungen – Verdun, Belfort – angreifen? Doch wohl in der Hoffnung, den Franzosen durch Artillerie schwere Verluste zuzufügen an einer Stelle, an der sie nicht zurückgehen konnten. Am 7. Januar 1916 schrieb Generaladjutant von Plessen in sein Tagebuch: "Ein Durchbruch durch die französischen Schützengräben wird uns ebensowenig gelingen, wie er den Franzosen gelungen ist. Die defensive Kraft der modernen Waffen ist zu gross. Also mit allen Kräften gegen Verdun. Die dicken Berthas (42 cm) werden uns hier ebenso zum Sieg verhelfen, wie bei Lüttich, Namur, Maubeuge, Antwerpen!" 20

Vor Verdun, so hoffte Falkenhayn, konnte er die Franzosen unter günstigen Umständen stellen, mit überlegener Artillerie beschießen, sie dann vielleicht, unter für sie sehr nachteiligen Bedingungen (buchstäblich einer "uphill battle"), zum Angriff zwingen. Warum soll das nicht die eigentliche Idee Falkenhayns gewesen sein? Nur diese würde auch erklären, warum er auf einen überhasteten englischen Entlastungsangriff hoffte – weil er notwendig würde, um die, wegen ihrer Verluste vor Verdun wankenden, Franzosen zu stützen.

Der Angriff auf die "Côtes" vor Verdun bezweckte demnach, die Franzosen gewaltig zu schwächen. Auch ohne Falkenhayns Rechtfertigungsschriften von 1919 als Quelle heranzuziehen kann man daher zu einem Resultat kommen, das dem Resumé des Kaisers von 1934 gleichkommt. Gerd Krumeich hat recht, daß vor der Schlacht selbst noch nicht vom "Ausbluten" die Rede war, zumindest nicht in systematischer Form wie später. Die Gründe für die Entwicklung der abstoßenden Terminologie während der Schlacht habe ich seinerzeit in meinem Buch über Falkenhayn zu skizzieren versucht. 21

Falkenhayn selbst hat seinem Angriff auf Verdun ebenfalls diese Interpretation gegeben, wohl nicht ohne Grund. In der Kernargumentation hat er nicht "gelogen", er hat aber, aus Gründen der Selbstrechtfertigung, Argumente hinzugedichtet, wie etwa die Vorstellung, die Schlacht nach Bedarf intensivieren oder abbrechen zu können, oder die irrtümlichen Annahmen über das Verlustverhältnis. Dass die in der "Weihnachtsdenkschrift" präsentierte "Ausblutungsthese" Glauben fand und lange akzeptiert wurde, lag daran, daß die Zeitgenossen Falkenhayns damalige Äußerungen wiedererkannten und wußten, dass sie authentisch waren. Dies bezog sich auf viele einzelne Argumente; die Denkschrift in ihrer Gesamtheit stieß meist auf kritische Aufnahme. Hier sei auf eine kurze Stellungnahme von Wilhelm Groener verwiesen, der die Sache beispielhaft und exakt auf den Punkt brachte. 22

Es ist heute, wie ich glaube, unstrittig, daß die Weihnachtsdenkschrift als solche in Teilen eine um Authentizität bemühte Selbstinterpretation Falkenhayns, in anderen eine Fabrikation war und gleichzeitig eine zynische, und gleichzeitig auch unglaublich ungeschickte, Selbstrechtfertigung.

Das einzig Positive an all diesen Plänen – nach Delbrück einer "Überspannung des Ermattungsgedankens" - mag sein, daß Falkenhayn hoffte, durch seine Operationen im Jahre 1916 den Westgegnern den Krieg zu verleiden und somit einen, letztlich politischen, Friedensschluß zu ermöglichen.

Noch ein Wort zu den Quellen. Es wird jüngst, etwa von Olaf Jessen in seinem Buch über die Schlacht von Verdun, viel über die Tappen-Befragungen durch das Reichsarchiv gesprochen. Diese Quelle ist aber weder neu noch unproblematisch. Man darf sie natürlich verwenden (ich habe das auch getan), sollte dabei aber die prinzipiellen Probleme von Befragungen 16 Jahre nach dem Ereignis in Rechnung stellen und außerdem die Warnung des Oberstleutnant Hentsch berücksichtigen, der im September 1914 sagte: Tappen "gehört zu den Leuten, in deren Händen sich jeder gesunde Gedanke in Unsinn verwandelt." Seine Urteile sollten also mit kritischer Vorsicht gewertet werden.

Zitierempfehlung

Holger Afflerbach, Falkenhayn und Verdun, in: Portal Militärgeschichte, 23. Oktober 2017, URL: http://portal-militaergeschichte.de/afflerbach. (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu.)

  • 1. Holger Afflerbach, Falkenhayn.Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, 2. Aufl. München 1996, S. 365.
  • 2. Erich v. Falkenhayn, Verdun, in: Militär-Wochenblatt Nr. 6, 12. Juli 1919, S. 98-108; ders., Die Oberste Heeresleitung 1914-1916 in ihren wichtigsten Entschließungen, Berlin 1920, S. 176-184, in der er die sogenannte „Weihnachtsdenkschrift“ abdruckte.
  • 3. Afflerbach, Falkenhayn, S. 351-375, 543-545.
  • 4. Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914-1918, Band 10, Berlin 1936, S. 39 f.; Kronprinz Rupprecht von Bayern, Mein Kriegstagebuch, hrsg. von Eugen von Frauenholz, Bd. 1, München 1929, S.426 f. (12.2.1916).
  • 5. Beispiele: Groener, der sagte, Falkenhayn habe sich „öfter“ geäußert: „Massendurchbruchsversuche seien aussichtslos …“,, zitiert bei Afflerbach, Falkenhayn, S. 544; . Rupprecht, Mein Kriegstagebuch Bd. 1, S. 427 (12.2.1916): „Zu einem Durchbruch besäßen wir nicht die Mittel.“
  • 6. Ebd, S. 427.
  • 7. Afflerbach, Falkenhayn, S. 366.
  • 8. Denkschrift bei Hermann Wendt, Verdun 1916. Die Angriffe Falkenhayns im Maasgebiet mit Richtung auf Verdun als strategisches Problem, Berlin 1931, S. 228 ff; zitert bei Afflerbach, Falkenhayn, S. 367.
  • 9. Ebd., S. 367.
  • 10. Der Weltkrieg 1914-1918, Bd. 10, S. 27.
  • 11. Ebd., 40.
  • 12. Rupprecht, Mein Kriegstagebuch Bd. 1, , S. 426 f. (10.2.1916). 12 Armeekorps entsprachen 20-30 Divisionen.
  • 13. Ebd., S. 422 (3.2.1916).
  • 14. So auch Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914-1918, S. 41.
  • 15. Helmut Reichold und Gerhard Granier (Hrsg.): Adolf Wild von Hohenborn. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Generals als Kriegsminister und Truppenführer im Ersten Weltkrieg, Boppard a.Rh. 1986, S. 120 (11.12.1915). Bei Wild heißt es, Anfang Dezember 1915. "Bei Verdun sind außerdem Gasangriffe möglich. Bei Angriff von Nord und Ost wird sich der Bogen bald so verringern, daß keine Maus darin leben kann."
  • 16. Reichsarchiv (Bearb.), Der Weltkrieg 1914-1918, Bd. 10, S. 27.
  • 17. Ebd., S. 40.
  • 18. Falkenhayn, Oberste Heeresleitung, S. 184.
  • 19. Reichold/Granier, Wild, S. 133 (1.2.1916).
  • 20. Plessen-Tagebuch, Eintrag vom 7.1.1916, in: Holger Afflerbach (Hrsg.), Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr während des Ersten Weltkrieges - Quellen aus der militärischen Umgebung des Kaisers 1914-1918, München 2005 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts), S. 846.
  • 21. Afflerbach, Falkenhayn, S. 363 f..
  • 22. Siehe Afflerbach, Falkenhayn, S. 543-545.
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