Andreas R. Hofmann
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
28. April 2014

Eine Welle der nationalen Begeisterung fegte nach jahrelanger Demütigung unter fremder Besatzung die französische Herrschaft über Kontinentaleuropa hinweg und bereitete dem napoleonischen Traum vom Grand Empire ein Ende. Dieses Bild der Befreiungskriege war ein Mythos der Historiographie, der sich bis weit in das 20. Jahrhundert halten konnte.

Wie wenig dieser Mythos mit den tatsächlichen Einstellungen, Erwartungen und Motiven der Bevölkerungen im napoleonischen Herrschaftsbereich zu tun hatte, haben in den letzten Jahren bereits mehrere Arbeiten verdeutlicht; man denke beispielsweise an die Studie von Ute Planert (Der Mythos vom Befreiungskrieg, 2007). So kann heute kaum mehr strittig sein, dass nationale Diskurse im frühen 19. Jahrhundert allenfalls eine Sache politischer Publizisten, Philosophen und Dichter sowie von Teilen des Adels und des Bildungsbürgertums waren. Erst gegen Mitte des Jahrhunderts wurde der Begriff der Nation Allgemeingut, und seither unterstellten Memoirenschreiber und Historiker rückblickend den Teilnehmern der antinapoleonischen Feldzüge eine durchgehend nationale Motivation. Mit der Übertragung der Souveränität vom Monarchen auf die Nation in der Französischen Revolution als abstoßendem Exempel vor Augen, waren Fürsten und konservative Reformer ihrerseits abgeneigt, sich am nationalen Diskurs der Intellektuellen zu beteiligen und an nationale Gefühle zu appellieren. Eher setzten sie auf traditionelle Werte wie die Loyalität zum Herrscherhaus und den Landespatriotismus sowie auf vage Freiheitsverheißungen, um die Bevölkerungen propagandistisch zu rüsten.

Alexander Bleyer bewegt sich somit in ihrem hier vorzustellenden Buch auf gut erkundetem Terrain, wenn sie nochmals der Frage nachgeht, „[w]ieviel Volk in den Volkskriegen“ gesteckt habe (S. 9). Sie möchte allerdings den Blick über den geläufigen Fall der deutschen Befreiungskriege hinaus erweitern und den spanischen Unabhängigkeitskrieg (1808-1814), den österreichisch-französischen Krieg von 1809 und den „Vaterländischen Krieg“ des Zarenreiches 1812 in vergleichender Absicht einbeziehen. Dabei stützt sie sich auf eine kleine Anzahl zeitgenössischer, vor allem habsburgischer Druckschriften, auf eine Reihe publizistischer Quellen und Memoiren in deutscher Sprache sowie auf eine breite Auswahl deutsch- und englischsprachiger Forschungsliteratur aus den letzten fünfundzwanzig Jahren nebst einigen älteren Titeln.

Die Darstellung folgt zunächst der Chronologie der Ereignisse mit einem einführenden Kapitel über den Aufstieg Bonapartes zum Kaiser der Franzosen, dem sich Abschnitte zu dessen Kriegen gegen Spanien, die Habsburgermonarchie, das Zarenreich und die Koalition von 1813/14 anschließen. Das fünfte Kapitel nimmt mit Propaganda und staatlicher Pressepolitik einen wichtigen Teilaspekt des eigentlichen Themas in den Blick; das sechste Kapitel begibt sich mit den Erfahrungen und Verhaltensweisen der Zeitgenossen auf die Ebene der Rezeption; das abschließende siebte Kapitel bietet eine knappe Zusammenfassung der Befunde.

Das Buch richtet sich nicht an ein Fachpublikum, sondern ist für eine breitere Leserschaft gedacht, was die ausführlichen Überblicke über politischen Kontext und Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen rechtfertigen mag, die wenig Neues bringen, sich aber gut als Einführungstexte eignen. Der Wille zur Popularität schießt gelegentlich ein wenig über das Ziel hinaus, etwa wenn die Autorin Napoleon als „Superstar“ oder als „Superheld und Weltbeherrscher“ (S. 9, 11) apostrophiert, zumal sie sich des weiteren nicht eingehender mit dem napoleonischen Herrscherbild in Propaganda und Rezeption auseinandersetzt. Ein Vergleich eines zeitgenössischen populären Blattes mit der „Bild“-Zeitung (S. 158) wirkt deplaziert und ist insofern irreführend, als wir uns im Betrachtungszeitraum noch eine gute Generation vor der Erfindung des Rotationsdrucks und der erst dadurch ermöglichten Entwicklung der kommerziellen Massenpresse im eigentlichen Sinne befinden.

Ohne Zweifel war Napoleon ein „Meister der Propaganda“ (S. 14), der die Klaviatur der massenpsychologischen Manipulation beherrschte und mittels Zensur und Lancierung selbstverfasster Meldungen und Kommentare die Indoktrinierung von Gesellschaft und Armee auf ein zuvor unerreichtes Niveau hob. Wie Bleyer zeigt, machten die Staaten der antinapoleonischen Koalition nicht nur zahlreiche Anleihen bei Taktik und Logistik der napoleonischen Kriegführung, sondern versuchten ihrerseits, mit Freiheitsrhetorik und Propaganda bei Bürgern und Soldaten Kriegsbegeisterung zu wecken und so eine wesentliche Voraussetzung für eine Kriegführung zu schaffen, die sich sehr von den Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts unterschied. Sie taten dies allerdings, so muss man resümieren, mit begrenztem Erfolg.

Bleyer nennt die wesentlichen Aspekte, die den seit den Revolutionskriegen geführten „Volkskrieg“ von diesen älteren Kriegen unterschied (S. 31): das Heer wurde stark vergrößert, was in der Regel nur über die allgemeine Wehrpflicht zu erreichen war; diese erforderte, zuvor exemte Schichten wie insbesondere das Bildungs- und Besitzbürgertum zum Militärdienst heranzuziehen; der Soldat sollte nicht mehr bloß gedrillter Untertan sein, sondern „Bürger-Soldat“, der nicht durch Leibesstrafen diszipliniert wurde, sondern seinen Dienst aus patriotischer Überzeugung leistete. Die Reformer entwickelten in- und außerhalb Preußens unterschiedliche Vorstellungen einer allgemeinen Volksbewaffnung, für welche die spanische guerrilla zugleich Vorbild und abschreckendes Beispiel war. Denn einerseits bewies das „spanische Magengeschwür“, dass der „kleine Krieg“ effektiv Truppen des Feindes binden und verschleißen und den Einsatz der regulären Armee unterstützen konnte, andererseits fürchteten die politischen Eliten nichts so sehr wie außer Kontrolle geratende Gewalt und anarchische Zustände, wie sie ihrer Meinung nach jederzeit seitens eines bewaffneten „Pöbels“ drohten (S. 36-39).

Die Staaten der antinapoleonischen Koalitionen verfielen daher auf unterschiedliche Formen von Milizen, Landwehren und Landsturm, welche gewissermaßen die Quadratur des Kreises aus bürgerschaftlicher Selbstbewaffnung und obrigkeitlicher Kontrolle vollziehen sollten. Hier kennt sich Bleyer als Österreicherin sichtlich mit den 1809 gebildeten Landwehren der habsburgischen Kronländer am besten aus; sie besaßen das nicht immer beachtete Privileg, nur in ihren Heimatgebieten eingesetzt zu werden. Demgegenüber vernachlässigt die Autorin, dass die preußische Landwehr 1813-1815 nicht wesentlich anders als die reguläre Armee eingesetzt wurde, während die russische Leibeigenenmiliz von 1807 und 1812-1814, das opolčenie, wiederum einen von diesen Landwehren ganz verschiedenen Fall darstellte. Hier wie in vielen anderen Passagen stößt der angestrebte Vergleich an seine Grenzen; denn die Fallbeispiele werden letztlich eher nebeneinandergestellt als auf ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht.

Dennoch soll abschließend eine positive Bilanz gezogen werden. Inmitten einer aus Anlass der 200. Jahrestage veröffentlichten Reihe von Reprints wilhelminischer Jubelliteratur und manchmal doch recht halbgarer neuer Darstellungen macht dieses Buch den mindestens in weiten Teilen geglückten Versuch, systematisch-problemorientierte Ansätze der neueren Forschung in eine allgemeinverständliche und gut lesbare Form zu übertragen und in den größeren Kontext der napoleonischen Kriege einzubetten. Wie wenig sich die Bevölkerungen besonders der deutschen Länder für die Kriegsanstrengungen der antinapoleonischen Koalition begeistern ließen, wie groß die Kriegsmüdigkeit dort und nicht zuletzt auch in Frankreich gegen Ende der napoleonischen Kriege tatsächlich war, das nochmals klar ins Bewusstsein zu rufen, ist kein geringes Verdienst.

 

Alexandra Bleyer, Auf gegen Napoleon! Mythos Volkskriege. Darmstadt: Primus 2013,ISBN 978-3-86312-022-1; 262, S.; € 24,90.
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