Wilhelm-Deist-Preis 2016
Wencke Meteling
Miszelle
Veröffentlicht am: 
12. Dezember 2016

Laudatio

„Die Skala der Weltgeltung der Nationen ist identisch mit der Skala ihrer Seemacht.“ In diesem Satz bündelte sich die politische Philosophie Großadmiral Erich Raeders, von 1928 bis 1943 amtierender Marinechef und neben Karl Dönitz der prominenteste Admiral der NS-Zeit. Mit diesem Satz versuchte er 1934, Hitler von der Bedeutung der Marine zu überzeugen. Es war zugleich eine Art „Glaubensbekenntnis“ der deutschen Marineführung.

Mit seiner Untersuchung des seestrategischen und geopolitischen Denkens unter Großadmiral Erich Raeder ist Herr Schicketanz ein grundlegender, ein famoser Beitrag für eine maritime Militärgeschichte als Ideengeschichte gelungen. Souverän vermisst er die marinepolitischen, weltpolitischen und seestrategischen Denkwelten in Staat, Marine und Gesellschaft. Die ideengeschichtlichen Wurzeln der Seestrategie des OKM liegen in einer deutschen Seemachtideologie, einem deutschen „Navalismus“, der sich eben auf die prägnante Formel bringen lässt: Seemacht = Weltgeltung. Navalismus war das maritime Pendant zu Militarismus und Imperialismus – und zugleich deren Konkurrent im erbitterten Kampf um Ressourcen. Die Hochphase navalistischer Ambitionen und Bestrebungen lag zeitlich zwischen 1890 und 1945, geographisch vor allem in den USA, Europa und Japan.

Die Geschichte des deutschen Navalismus im Zweiten Weltkrieg ist im Grunde eine Geschichte des Scheiterns. Das macht sie nicht weniger faszinierend als Forschungsgegenstand. Und man sollte angesichts der noch immer vorherrschenden Fixierung auf das Heer nicht den Fehler begehen und den gehörigen Einfluss maritimer, post-Tirpitzscher Expansionsbestrebungen unterschätzen. Wer Herrn Schicketanz Arbeit gelesen hat, wird das mitnichten tun. Das Streben nach Seemacht war Teil des deutschen Strebens nach Weltmacht. In seiner Studie zeichnet Herr Schicketanz nach, wie es unter Raeder zu einer Renaissance des maritimen ,Griffs nach der Weltmacht‘ kam und was dies bedeutete. Perspektiven- und kenntnisreich ordnet er die deutsche Seestrategie von 1938/39 und ihren „navalistischen Überbau“ in den marinepolitischen Kontext der politischen, rechtlichen und materiellen Rahmenbedingungen, Erfahrungshorizonte und Mentalitäten ein. Das ist ein ambitionierter Zugriff, und Herr Schicketanz erweist sich als Meister, der die Geister auch tatsächlich zu bändigen versteht, die er in der Einleitung rief. Kritisch und kundig erörtert er die Marine- und Rüstungspolitik des Deutschen Reiches und navigiert elegant durch die nationalen und internationalen seestrategischen Denkwogen seit dem 19. Jahrhundert. Flucht- und Verdichtungspunkt der Arbeit ist die deutsche Seestrategie am Vorabend des Zweiten Weltkriegs 1938/39.

Herr Schicketanz urteilt stets kritisch und profunde vor dem Hintergrund einer bestechenden Quellen- und Literaturkenntnis. Angefangen von einer Fülle zeitgenössischer Primärschriften zur Seekriegstheorie, Geopolitik und politischen Debatte aus der Feder Raeders, des berühmten US-Navalisten Alfred T. Mahan und deutscher, britischer und französischer Seekriegsautoren, über Handreichungen der Marine, Zeitschriftenbeiträge, das Admiralstabswerk „Der Krieg zur See 1914–1918“ bis hin zu einer Reihe von Erinnerungs- und Rechtfertigungsschriften, darunter auch Raeders Memoiren – ein Gemeinschaftswerk und sozusagen offizielle Rechtfertigungsschrift der Marine – Herr Schicketanz kennt sein Material und versteht es, die wesentlichen Punkte kristallklar und pointiert herauszuarbeiten.

Im Auftrieb durch das Flottenabkommen von 1935 schossen die Expansionsphantasien der Navalisten in Deutschland durch die Decke, bzw. eroberten im planerischen Geiste die Weltmeere und besiegten die Royal Navy, für eines künftigen deutschen Weltreiches „Ehre“ und „Prestige“. In der Ära Raeder, so der zentrale Befund, strebte die Marineführung eine riesige, auf allen Weltmeeren einsatzfähige und offensiv aufgestellte Flotte an, mit Großkampfschiffen als Rückgrat. In manchem wirkte die Seestrategie wie eine Fortführung der Marinetradition des Tirpitz’schen Weltmachtstrebens, wie ein Tirpitz’scher und Mahan’scher Navalismus, freilich in einem gewandelten Kontext. Darin ging sie aber nicht auf. Faktisch, so Herr Schicketanz prägnant, handelte es sich bei Raeders Seestrategie um einen Kompromiss, einen Mittelweg zwischen den Traditionslinien „Kreuzerkrieg“ und „Flottenkrieg“, aber eben mit starkem navalistischen Überbau. Der vielzitierte Satz des „Flottenprofessors“ und Ahnherrn der deutschen Geopoltik Friedrich Ratzel „Das Meer erzieht Weltmächte“ und Mahans Seemachtideologie prägten das Denken der deutschen Reichs- und Kriegsmarine. Sie liefen aber auf etwas ganz anderes hinaus: „nämlich aggressive macht- und wirtschaftspolitische Expansion nach Übersee“. Für die Marine brach der Zweite Weltkrieg zu früh aus, Improvisieren lautete deshalb das Gebot der Stunde bzw. des Krieges, das hinderte sie aber nicht daran, einer „größenwahnsinnigen Expansion“ zu huldigen.

Mit seiner Studie hat Herr Schicketanz einen äußerst lesenswerten, eigenwilligen und anregenden Forschungsbeitrag zur neueren maritimen Militärgeschichte als Ideengeschichte geleistet. Eingangs stellt er heraus, dass Navalismus ein globales Phänomen darstellte, das noch der Erforschung harrt. Es wäre phantastisch, wenn eines Tages auch der "Globale Schicketanz" vorläge. Ich spreche im Namen des gesamten Vorstandes des AKM, wenn ich sage, wie sehr wir uns freuen, diese herausragende Arbeit mit dem diesjährigen Wilhelm-Deist-Preis für Militärgeschichte auszuzeichnen.