Das Agieren der Großmächte Deutschland, Großbritannien und Sowjetunion in Sowjetisch- und Chinesisch-Turkestan 1919–1933 (Dissertation)
David X. Noack
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
18. April 2024

Basierend auf Akten der Außenministerien Deutschlands, Großbritanniens und Sowjetrusslands/der Sowjetunion werden in der diplomatie- und geopolitikgeschichtlichen Doktorarbeit die gegenseitigen Wahrnehmungen dieser Großmächte in Zentralasien von 1919 bis 1933 untersucht. Im Fokus stehen dabei die Perzeptionen der Großmächte sowie der vielen anderen Akteure in der Region durch die politischen Entscheider der drei ausgewählten Großmächte. Während die Deutschen nach dem Ende ihres Kolonialreiches nach neuen Märkten suchten, versuchten die Briten, Pufferzonen vor den Grenzen Britisch-Indiens zu etablieren bzw. zu halten. Die Sowjets wiederum strebten danach, eine Route nach Indien zu etablieren, um dort eine Revolution zu befeuern. Analog zum „Großen Spiel“ des 19. Jahrhunderts sahen sich die drei Großmächte im Wettbewerb zueinander und außerdem mit revolutionären Bewegungen, autonomen Regierungen (wie z.B. in Sinkiang/Xinjiang) und neu unabhängig gewordenen Staaten wie Afghanistan und Buchara (das von 1917 bis 1924 unabhängig war) konfrontiert.

Die Arbeit ist ein Grenzgang – einerseits müssen viele Aspekte und Entwicklungen der Diplomatiegeschichte dieser Zeit grundsätzlich aufgearbeitet werden und andererseits soll durch konstruktivistische Ansätze ein theoretischer Mehrwert gewonnen werden. Zu der Region und der Zeit gibt es bisher keine wissenschaftliche Arbeit mit einem transnationalen Ansatz.[1]

Die Doktorarbeit beginnt mit dem britischen Abzug der Truppen aus Turkmenistan und dem Ende des Dritten Afghanisch-Britischen Krieges im Sommer 1919.[2] Nach dem Ende dieser Konflikte wurden die Grenzen in Zentralasien neu gezogen: Afghanistan erlangte die Unabhängigkeit, die Sowjets hatten sich größtenteils im früheren Russisch-Zentralasien behauptet und die einst russischen Kolonien Chiwa und Buchara agierten de facto unabhängig.

Basierend auf den politischen Entwicklungen, die nach Festlegung dieser neuen Grenzen ihren Lauf nahmen, ist die Dissertation in drei Teile unterteilt. In der ersten Phase (1919–1923) veränderten sich die politischen Bedingungen immer wieder. In Buchara und Chiwa stürzten die Bolschewiki gemeinsam mit lokalen Reformern 1920 die Fürsten und etablierten Volksrepubliken. Gegen die Bucharische Volksrepublik intervenierte die afghanische Armee an der Seite des gestürzten bucharischen Emirs und der Aufstandsbewegung der Basmatschi (1922/1923). Auf Sinkiang griff der Russische Bürgerkrieg über[3], der dortige isolationistisch-orientierte Gouverneur konnte sich jedoch an der Spitze der Provinz halten. Die Deutschen versuchten vor allem durch wirtschaftliche Vorhaben, in dem Gebiet – zunächst in Buchara, später im übrigen Sowjetisch-Turkestan und die ganze Zeit in Afghanistan – Fuß zu fassen.

Die neuen Regierungen Afghanistans und Bucharas etablierten Beziehungen mit Deutschland und entsandten Handelsvertreter und Botschafter. Die Briten wiederum beobachteten mit dem Bürgerkrieg in Buchara einen Konflikt, in dem ihnen eine Konfliktpartei unsympathischer erschien als die andere – Sowjets, Ankara-Türken, Enver Pascha mit seinen Anhängern und die Afghanen. In Mesched in Chorasan (Persisch-Turkestan) und Kaschgar in Sinkiang beobachteten die Mitarbeiter der britischen Generalkonsulate außerdem die ersten sowjetischen Versuche, propagandistisch und wirtschaftlich Fuß zu fassen.

In der zweiten Phase (1924–1928) endete die chiwaische und bucharische Staatlichkeit mit der Eingliederung in die UdSSR. Darüber hinaus versiegten die meisten Basmatschiaktivitäten, nachdem der charismatische und in Berlin und London chronisch überschätzte Anführer Enver Pascha bereits 1922 im Kampf gegen die Rote Armee gefallen war. In Chorasan agierten die Sowjets sehr umtriebig, vor allem mit Propagandaaktivitäten. Mit Sinkiang etablierten lokale Sowjetbehörden erste inoffizielle Beziehungen. Die Deutschen hatten dann schon keine Hoffnungen mehr auf wirtschaftliche Aktivitäten in Sowjetisch-Zentralasien und konzentrierten sich fortan auf Afghanistan. Die Briten wiederum setzten den Sowjets in Chorasan und Sinkiang eigene Gegenpropaganda entgegen und beschäftigen sich viel mit Afghanistan, welches zwischen Moskau und London/Delhi eine Pendelpolitik betrieb. Nach der Gründung der afghanischen Luftwaffe mit hauptsächlich sowjetischen Piloten begann der britisch-indische Generalstab mit Plänen für einen britisch-sowjetischen Krieg auf afghanischem Boden.

Die dritte Phase (1929–1933) setzt beim Beginn des Afghanischen Bürgerkrieges 1929 an. Zunächst marschierte die Rote Armee ein, um König Amanullah zu helfen – musste sich jedoch binnen kürzester Zeit erfolglos zurückziehen. Letztendlich setzte sich durch britische indirekte Hilfe der Konservative Nadir Khan durch und konnte sich auch dank Finanzspritzen aus London dauerhaft halten. Daraufhin erlebten die Deutschen einen Einschnitt in ihren Afghanistanaktivitäten und außerdem sank der sowjetische Einfluss drastisch. Der neue Gouverneur in Sinkiang, Jin Shuren, hingegen beendete die Isolation seiner Provinz und brachte deutsche Berater und Unternehmen in sein Gebiet. Die Lufthansa-Expedition unter Leitung Sven Hedins führte dazu, dass Deutschland erstmals vor Ort direkt Präsenz zeigte. Die Sowjets schirmten Sowjetisch-Turkestan immer weiter ab und minimierten ihr Engagement in Chorasan. Mit dem japanischen Einmarsch in der Mandschurei tauchte 1931 erstmals die Gefahr eines japanischen Engagements in Turkestan auf. Die Japaner brachten mit einem früheren osmanischen Prinzen sogar einen potenziellen Marionettenherrscher nach Sinkiang – die Sowjets und Türken wiederum versuchten dessen Inthronisierung zu verhindern. Als der Hami-Aufstand 1931 begann, wankte die Herrschaft Jin Shurens. Der Aufstand wuchs binnen zwei Jahren zu einem die ganze Provinz umfassenden Bürgerkrieg an. Infolgedessen marschierte die Rote Armee 1934 in die Provinz ein.

Die Doktorarbeit endet mit dem turbulenten Frühjahr 1933. In Sinkiang eskalierte die Lage und wirtschaftliche Aktivitäten der Deutschen endeten – ebenso die britischen Propagandaaktivitäten. Für den Verlauf des Jahres 1933 lässt sich konstatieren, dass das „Zweite Turnier der Schatten“ von 1919 bis 1933 sein Ende fand. Die Einflusssphären waren fortan klar zwischen London und Moskau aufgeteilt (die Sowjets hielten Sinkiang[4], die Mongolei und Tannu-Tuwa[5] und die Briten hatten einen dominierenden Einfluss in Afghanistan und Persien), die Deutschen wiederum spielten – bis auf Afghanistan – keine Rolle mehr, viele grenzüberschreitende Aktivitäten wurden beendet und diverse Konsulate geschlossen. Afghanische Militärbeobachter durften fortan nicht mal mehr an sowjetischen Manövern als Gäste teilnehmen. Die Grenzen schienen vorerst dicht.

[1] Folgende Arbeiten streifen diese Themenkomplexe nur: Rudolf A. Mark: Krieg an fernen Fronten: Die Deutschen in Zentralasien und am Hindukusch 1914–1924, Paderborn/München/Wien/Zürich 2013; Lars-Erik Nyman: Great Britain and Chinese, Russian and Japanese Interests in Sinkiang, 1918–1934, Malmö 1977; Franziska Torma: Turkestan-Expeditionen: Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890–1930), Bielefeld 2011.
[2] Werner Zürrer: Die britische Intervention in Transkaspien 1918/1919, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Bd. 23 (1975), H. 3, S. 344–380.
[3] Michael Share: The Russian Civil War in Chinese Turkestan (Xinjiang), 1918–1921: A Little Known and Explored Front, in: Europe-Asia Studies, Jg. 62 (2010), Nr. 3, S. 389–420.
[4] Bis 1937 ohne das sogenannte Dunganistan im Süden der Provinz.
[5] Die beiden Volksrepubliken spielen keine zentrale Rolle in der Arbeit, werden aber erwähnt, sobald es für den Kontext von Sinkiang oder gar Buchara und Chiwa relevant ist. Deutschland erkannte die Mongolei de facto an, Tannu-Tuwa jedoch nicht.

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