Abkehr von der Gewalt ? - Der Umgang der westdeutschen Gesellschaft mit alten und neuen Formen gewaltsamen Handelns
Vergleicht man die bundesdeutsche Gesellschaft mit den Gesellschaften der NS-Zeit oder der Weimarer Republik, fällt ins Auge, dass ihre Gewalthaftigkeit im Laufe der Jahrzehnte signifikant zurückgegangen ist. Gewaltsames Verhalten, so der Eindruck, war im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre in Randbereiche abgedrängt und als Residualkategorie weitgehend eingehegt worden. Aus der Perspektive 70 Jahre nach Kriegsende erscheint die "Umkehr" der (West-)Deutschen (Jarausch, 2004) somit wie ein kollektiver Lernprozess nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur mit ihrer bespiellosen Massengewalt.
Doch was wie eine Erfolgsgeschichte des zivilisatorischen Fortschritts anmutet, lässt bei näherer Betrachtung Bruchlinien und Ambivalenzen erkennen, die einer vertieften Analyse bedürfen. Zum einen fällt auf, dass sich die Abkehr von der Gewalt auf verschiedenen Ebenen zeitversetzt und in unterschiedlicher Intensität vollzog. Zum anderen wurde die bundesdeutsche Gesellschaft mit der politischen Radikalisierung in den 1960er Jahren und dem Weg in den Terrorismus der 1970er Jahre mit neuen Formen der Gewalt konfrontiert. Auch hatten und haben vielfältige Formen der Mikrogewalt in zahlreichen gesellschaftlichen Teilbereichen ungebrochen überdauert. Dass die gewalthaltigen Darstellungen in den Medien Gewalt auf eine andere – virtuelle – Ebene verlagern, wird ebenfalls argumentiert (Welzer, 2012).
Historische Forschungen zur Rolle der Gewalt in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft standen lange Zeit im Schatten der Soziologie, die sich bereits seit den 1980er Jahren mit entsprechenden Phänomenen auseinandergesetzt hatte. Doch inzwischen hat sich eine Reihe von Historikerinnen und Historikern mit innovativen Studien zu Wort gemeldet. Dabei nehmen viele der historischen Untersuchungen Bezug auf aktuelle Problemhorizonte und verstehen sich – unter Einbeziehung der Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg, in der NS-Diktatur und auch in der Weimarer Republik – als Beitrag zur Zeit- und Gegenwartsgeschichte.
Ziel des Workshops soll es sein, mit der historischen Erforschung der Funktionen von Gewalt und ihrer Einhegung in verschiedenen Bereichen neue Perspektiven auf den gesellschaftlichen Wandel Westdeutschlands zwischen 1945 und 1989 zu eröffnen. Im Mittelpunkt stehen dabei Fragen nach den mittel- und langfristigen Auswirkungen der Gewalterfahrungen in der ersten Jahrhunderthälfte, nach der Etablierung und Durchsetzung der Standards gewaltfreier Konfliktaustragung in einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft sowie nach den unterschiedlichen Formen der Einhegung von Gewalt und ihrer punktuellen Entgrenzung. Darüber hinaus ist zu diskutieren, in welchem Verhältnis begrenzte und gegebenenfalls gesellschaftlich akzeptierte Formen der Gewalt im sozialen Nahbereich zur Gewaltbereitschaft im großen Maßstab standen (Schumann, 1997). Die Veranstalter erhoffen sich durch die historischen Tiefenbohrungen nicht nur Aufschlüsse zur bundesdeutschen Gesellschaftsgeschichte, sondern auch neue Impulse für die grundlegende Debatte darüber, ob Gewalt in der Geschichte der Neuzeit eher abnimmt (Pinker, 2011), unverändert bleibt (Malešević, 2013) oder sogar zunimmt (Baumann, 1992).
Anmeldungen werden erbeten an Dr. Peter Ulrich Weiß (weiss@zzf-pdm.de)
Veranstaltungsort: Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (Großer Seminarraum), Am Neuen Markt 9d, 14467 Potsdam
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Programm:
12. November 2015
10.15 Begrüßung
Einführung - Teresa Koloma Beck (Centre Marc Bloch Berlin): Die Neuausrichtung der soziologischen Gewaltforschung
11.15 Pause
11.45 Panel 1 - Krieg … war früher. Militär in der pazifizierten Gesellschaft
Moderation: Frank Bösch (ZZF)
Angelika Dörfler-Dierken (ZMSBw, Potsdam): Die Bedeutung der Inneren Führung für die Ausrichtung der Bundeswehr
Claudia Bade (Hamburg): Deserteure als Helden – Zum Wandel militärischer Leitbilder nach dem Zweiten Weltkrieg
Daniel Gerster (Universität Münster): Apostel der Gewaltfreiheit? Die Friedensbotschaft der christlichen Kirchen und die bundesdeutsche Gesellschaft
Kommentar: Thomas Schaarschmidt (ZZF)
13.30 Lunch
14.45 Panel 2 - Abkehr von der Gewalt als gesellschaftliches Projekt I
Moderation: Peter Ulrich Weiß (ZZF)
Till Kössler (Ruhr-Universität Bochum): Prügelstrafe, Friedenserziehung und Mobbing – Schulen als Lernorte des Friedens … und der Gewalt
Wilfried Rudloff (Universität Kassel): Gewalt im geschützten Raum? – Fürsorgeerziehung und Behindertenheime
Annelie Ramsbrock (ZZF): Von der Prügel zur Pädagogik – Erziehung zur Zivilität hinter Gittern
Kommentar: Winfried Süß (ZZF)
16.30 Pause
17.00 Panel 3 - Abkehr von der Gewalt als gesellschaftliches Projekt II
Moderation: Jan Behrends (ZZF)
Christoph Classen (ZZF): Ventilfunktion oder Brandbeschleuniger – Debatten um die Wirkung von Gewaltdarstellungen in alten und neuen Medien
Gunter A. Pilz (Universität Hannover): Krieg ohne Waffen? – Sport in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft
Armin Pfahl-Traughber (FH des Bundes für öffentliche Verwaltung Brühl): Rechtsextremistische Gewalt
Kommentar: Uta Gerhardt (Berlin)
18.45 Ende Tag 1
13. November 2015
09.15 Panel 4 - Der Umgang der bundesdeutschen Gesellschaft mit neuen Formen politischer Gewalt
Moderation: Martin Sabrow (ZZF)
Josef Mooser (Universität Basel): "Börners Dachlatte" – Gewalt in der deutschen Arbeiterbewegung
Petra Terhoeven (Universität Göttingen): Terrorismus und Gewaltdiskurse in der außerparlamentarischen Linken
Patrick Wagner (Universität Halle): Nach dem Schlagstock? Die Polizei als Repräsentant des staatlichen Gewaltmonopols
Kommentar: Klaus Weinhauer (Universität Bielefeld)
11.00 Pause
11.30 Schlusskommentare - Mary Fulbrook (University College London) | Ulrich Herbert (Universität Freiburg)
13.00 Ende der Tagung
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Kontakt:
Dr. Annelie Ramsbrock
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Am Neuen Markt 1
14467 Potsdam