Guido M. Berndt
Tagungsbericht
Veröffentlicht am: 
19. Dezember 2016

Schon seit geraumer Zeit schwelt unter Historikern eine Debatte um den Übergang von der Antike zum Mittelalter. Kam es in dieser Zeit zu einem Ende der Zivilisation, einer Katastrophe, die durch Invasionen fremder Barbaren über die Römer einbrach, oder war es ein langfristiger Transformationsprozess, in dessen Zuge sich die römische Welt allmählich in eine frühmittelalterliche umwandelte? Ein wichtiger Aspekt ist dabei in den vergangenen Jahrzehnten in den Hintergrund getreten: die Frage nach der Rolle des Militärischen. Dieser Frage widmet sich nun das Berliner Forschungsprojekt, „Militarisierung frühmittelalterlicher Gesellschaften. Erscheinungsformen, Regulierung und Wahrnehmung im westeuropäischen Vergleich“, das zu Beginn des Jahres 2016 seine Arbeit aufgenommen hat. Ziel seiner Arbeit ist das im frühmittelalterlichen Europa festzustellende Phänomen einer fortschreitenden Militarisierung der Gesellschaften, eine Entwicklung, die ein grundlegendes Charakteristikum des Mittelalters darstellen sollte, erstmals umfassend zu untersuchen.

Im August 2016 fand ein erster Workshop statt, während dem die Projektbeteiligten sich mit Spezialisten aus unterschiedlichen Disziplinen ausgetauscht haben. Dabei konnte ein multiperspektivischer und vergleichender Blick auf das Phänomen Militarisierung gewonnen werden. Das Konzept des von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Forschungsprojektes und die ihm zugrundeliegenden Kernfragen erläuterte LAURY SARTI nach einer Begrüßung durch STEFAN ESDERS, an dessen Lehrstuhl das Projekt angesiedelt ist. Sarti griff auf eine von Edward James entworfene Definition zurück und führte aus, dass militarisierte Gesellschaften dadurch gekennzeichnet seien, dass eine klare Abgrenzung der militärisch Tätigen gegenüber der zivilen Bevölkerung nicht gegeben sei, dass Waffen weit verbreitet seien und eine hohe gesamtgesellschaftliche Anerkennung kriegerischer Fähigkeiten, Tätigkeiten und Werte vorherrsche. Zudem würden Waffen in diesen Gesellschaften nicht nur für kriegerische Gewalt eingesetzt, sondern regelhaft auch für bestimmte Zeremonien und Rituale verwendet.

Im ersten Vortrag (Soldier and Civilian in the Byzantine Empire c. 600–c. 900. A Militarised Society?) widmete sich PHILIP RANCE Fragen der Militarisierung in mittelbyzantinischer Zeit, die aufgrund der äußerst fragmentarischen Quellenlage immer noch als „dark ages“ gilt. Aus den wenigen vorhandenen Überlieferungen sei aber ein stetiger Wandel in der Entwicklung des byzantinischen Militärs zu erkennen. Im 7. Jahrhundert seien deutliche Regionalisierungs- und Provinzialisierungstendenzen zu beobachten. Militärhaushalte entstanden, in denen die Verpflichtung zum Dienst in der Armee erblich wurde, wobei es durchaus Wege gab, sich vom Militärdienst zu befreien, etwa durch Geldzahlungen an den Staat. Dieser konnte dann die Summen zur Anwerbung anderer Soldaten einsetzen. Vor allem im 10. Jahrhundert, so Rance weiter, sei es zu einer erneuten Professionalisierung der Armee gekommen, bei gleichzeitig stärker werdender Sozialdifferenzierung zwischen den Soldaten. Wie stark die Gesellschaft des oströmischen/byzantinischen Reiches in der Zeit zwischen etwa 600 und 900 gewesen ist, ließe sich kaum bestimmen, da eine flächendeckende Dokumentation fehle und zahlreiche militärische Aspekte noch ihrer Erforschung harren.

Einer räumlich kleineren, aber nicht weniger wichtigen Region wandte sich ROLAND STEINACHER in seinem Beitrag über das spätantike Pannonien zu (Pannonia as the Empire's Drill-Ground). Gelegen zwischen den westlichen und östlichen Teilen des römischen Imperiums nahmen auffällig viele Kriegergruppen ihren Ausgang. Die Gesellschaft Pannoniens sei in hohem Maße militarisiert gewesen, gerade weil es hier wiederholt zu Ansiedlungen barbarischer Kriegerverbände gekommen sei, etwa nach der „Völkerschlacht“ am Nedao im Jahre 454, die das Ende der hunnischen Herrschaft besiegelte. Nur wenig später kam es an der pannonischen Bolia zu einer weiteren Schlacht, in deren Folge es zu Umstrukturierungen in der gesamten Region kam. Die siegreichen Ostrogoten nahmen das Land in Besitz und ließen sich ihre Ansprüche vom Kaiser bestätigen. Es waren, so Steinacher weiter, demnach vor allem Kriegerverbände, die die Geschicke Pannoniens am Übergang von Spätantike zum Frühmittelalter bestimmten. Inwieweit der postulierte hohe Militarisierungsgrad ein Ergebnis der (nicht allzu dichten) Überlieferung ist und ob Pannonien stärker militarisiert war wie etwa die römisch-persische Grenze oder Regionen am Rhein, wird weiter zu diskutieren sein.

Im dritten Vortrag lenkte MATTHIAS HARDT (Avars and Slavs – A Military Relation?) den Blick auf die Beziehungen zwischen Awaren und Slawen. Anhand der Belagerung Konstantinopels im Jahre 626 zeigte er auf, dass die Awaren, auch wenn sie bereits seit Jahrzehnten mit slawischen Verbänden militärisch kooperierten, diese keineswegs als gleichberechtigte Partner ansahen. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Gruppen sei über einen langen Zeitraum hinweg von Gewalt geprägt gewesen, wofür Hardt verschiedene Quellenbelege anführen konnte. In einem zweiten Schritt stellte Hardt Beobachtungen zu militärischen Strukturen an, die sich im archäologischen Befund abzeichnen, wobei er insbesondere auf die „boundary forests“ (planvoll angelegte, dicht ineinander wachsende Pflanzen, die durch ihre Verschlingungen beinahe undurchdringlich für Angreifer sind) einging, die slawische Militärtechniker zum Schutz ihrer Hauptsitze anlegten.

Zwei Vorträge nahmen mit Italien die einstige Kernregion des römischen Imperiums in den Blick. KAI GRUNDMANN unternahm in seinem Vortrag (Clipeus and Gladius of the Roman People? Administration and Operations of the Ostrogothic Army in Italy) den Versuch, ein Gesamtbild der Organisationsstruktur der ostgotischen Armee in Italien zwischen 489 und etwa 550 zu zeichnen. Palasteinheiten, Grenzschutztruppen sowie die mobile Feldarmee bildeten die drei wesentlichen Truppenkörper des exercitus Gothorum. Zwar ließe sich, so Grundmann, keine genaue Gesamtstärke der ostgotischen Armee ermitteln, doch es sei insgesamt zu konstatieren, dass der Anteil an Soldaten gegenüber der zivilen Bevölkerung nur marginal gewesen sein dürfte. Zudem hätten weite Truppenteile separiert von der romanischen Bevölkerung gelebt. Diesen Befund deutete Grundmann als Indikator für eine vergleichbar geringe Durchdringung der Gesellschaft durch das Militärische.

GUIDO M. BERNDT, im Projekt zuständig für den Teilbereich „langobardenzeitliches Italien“, zeigte in seinem Beitrag (The Role of the Military in Lombard Italy. Some Preliminary Considerations) zunächst die historiographischen Traditionen der Langobardengeschichte auf und betonte, dass der Aspekt des Militärischen bislang unterrepräsentiert ist. Um dem Phänomen Militarisierung im langobardenzeitlichen Italien gerecht zu werden, müssten viele verschiedene Quellen herangezogen werden (schriftliche und archäologische), wobei die verschiedenen Phasen der Langobardengeschichte unterschiedlich gut belegt sind. Deutlich wurde, dass die überlieferten Quellen eine enge Abfolge militärischer Ereignisse überliefern, seien es nun innerlangobardische Konflikte oder Kriege mit auswärtigen Feinden. Auch Berndts Vortrag zeigte, dass sich der Grad der Militarisierung der langobardenzeitlichen Gesamtgesellschaft Italiens nur sehr schwer bestimmen lässt, da quellenbedingt über einen recht hohen Prozentsatz der Bevölkerung kaum Aussagen möglich sind. Zudem müsse der Blick nicht nur auf die Langobarden gerichtet werden, sondern es seien auch ihre Nachbarn und Gegner (Oströmer, Franken, Awaren) mit einzubeziehen, um zu einem Gesamtbild zu gelangen.

LEIF I. R. PETERSEN (The Imperial Foundations of Frankish and Visigothic Military Organization: Some Methodological Considerations) nahm die römischen Bürgerkriege und gesellschaftlichen Verwerfungen des 5. Jahrhunderts als Ausgangspunkt, um über die damit einhergehenden Veränderungen im römischen Militärapparat, insbesondere im Hinblick auf dessen Versorgung, nachzudenken. Anhand einiger juristischer Quellen diskutierte er die Rolle der munera (etwa „Dienste für die Allgemeinheit“, „Verpflichtungen“). Die munera militae wurden erhoben, um die Truppen zu versorgen, wobei für die Eintreibung lokale Administrationen zuständig gewesen waren. In den Nachfolgereichen der Franken und Wisigoten sei, so Petersen, dieses eher auf regionaler Ebene wirksame System dann gewissermaßen institutionalisiert worden.

Im letzten Teil der Tagung stand das frühmittelalterliche Britannien mit zwei systematisch angelegten Überblicken im Mittelpunkt. ELLORA BENNETT, im Berliner Projekt zuständig für die Erforschung des angelsächsischen Britanniens, zeigte in ihrem Vortrag (The Anglo-Saxon Military before Alfred. An Overview) die militärischen Grundstrukturen seit dem Ende der römischen Herrschaft. Neben grundlegenden Überlegungen zu Militarisierungstendenzen in diesem Raum stellte sie einen Überblick über das vorhandene Quellenmaterial vor und konzentrierte sich dann auf die Argumentation, dass in dieser Phase der angelsächsischen Geschichte Reiterkrieger von Bedeutung gewesen waren, was in der Forschung lange Zeit bezweifelt wurde. Darüber hinaus demonstrierte sie, wie die dem Gesamtprojekt zugrundeliegenden Überlegungen auf das angelsächsische Fallbeispiel auch im Hinblick auf eine kulturelle Militarisierung angewandt werden können.

Dem erfolgreichen Wirken der Armeen Alfreds d. Großen im Abwehrkampf gegen die Dänen und die diesem Erfolg zugrundeliegenden Militärreformen widmete sich Ryan Lavelle in seinem Vortrag (The Development of Military Reforms under Alfred the Great of Wessex [871–899]. A Review of Current Scholarship). Auch Lavelle stellte zunächst das zur Verfügung stehende Quellenmaterial vor, wobei er neben der chronikalen Überlieferung vor allem auf ein einzigartiges Verzeichnis von Befestigungsanlagen (Burghal Hidage), das an der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert entstand, zu sprechen kam. Alfreds Reformen, so argumentierte Lavelle, hätten schließlich dazu beigetragen, dass sich im angelsächsischen Britannien unter der Vorherrschaft von Wessex frühstaatliche Strukturen ausbilden konnten.

PHILIPP VON RUMMEL und LUKAS BOTHE leiteten mit ihren zusammenfassenden Kurzbeiträgen die Abschlussdiskussion ein, in der das von der Forschergruppe postulierte Konzept der Militarisierung nochmals aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wurde. Dabei wurde festgestellt, dass sich das Phänomen der Militarisierung mit Blick auf unterschiedliche Epochen und Gesellschaften auch unterschiedlich definieren lässt, wie ein Vergleich zur Spätantike oder zum kaiserzeitlichen Preußen zeigt. Die Militarisierung selbst stellt weniger einen statischen Zustand als vielmehr ein Prozess dar, der sich durchaus unterschiedlich gestalten kann. Diese und andere Überlegungen sowie Anregungen, die sich im Verlauf der Schlussdiskussion aus verschiedenen disziplinären Perspektiven ergeben haben, werden auch im weiteren Verlauf der Forschungsarbeit zu berücksichtigen sein.

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