Neuerscheinungen zur Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges
Christoph Nübel
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
17. März 2014

Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. (Aus dem Engl. von Norbert Juraschitz) München: Deutsche Verlags-Anstalt 2013. ISBN 9783421043597; 896 S.; € 39,99.

Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz. Mit einem Anhang: 50 Schlüsseldokumente zum Kriegsausbruch. Paderborn u.a.: Schöningh 2014. ISBN 9783506775924; 362 S.; € 34,90.

Die beiden vorzustellenden Bücher haben zwar einen gemeinsamen thematischen Schwerpunkt, unterscheiden sich aber in ihrer Zielsetzung. Christopher Clark will eine große Synthese der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges vorlegen, die durch eigene Akzentsetzungen besticht. Gerd Krumeich hat sich vorgenommen, ein Einführungswerk zum Thema zu schreiben, das auch als eine Anregung zum vertiefenden Studium der Probleme der Julikrise anleiten will. Um es vorweg zu nehmen: Beide Autoren zeigen sich als Kenner der Materie und haben ihr Anliegen umsetzen können.

Bereits die englischsprachige Ausgabe der „Schlafwandler“ ist vielfach und zumeist mit großem Lob besprochen worden. Seit September 2013 liegt die deutsche Übersetzung vor, die ebenfalls eine Welle an Rezensionen hervorgebracht hat. Daher erscheint es angebracht, nicht erneut eine umfassende Würdigung des Bandes vorzunehmen, sondern nach einer allgemeinen Einschätzung vor allem auf einzelne, bisher weniger beleuchtete Aspekte einzugehen. Clark zielt darauf, die politischen Ereignisse der Jahre vor 1914 konsequent in ihrem europäischen Rahmen zu historisieren. Um das zu erreichen, zeichnet er das Denken und Handeln der politischen und (weitaus seltener) der militärischen Entscheidungsträger nach. Es geht ihm vor allem darum, die zeitgenössischen Perspektiven und die sich daraus ergebenden Eigenlogiken zu untersuchen. Es ist bedrückend, mit welcher Klarheit der Autor herausarbeiten kann, dass ungeachtet ihrer Gefährlichkeit Nationalismus, Imperialismus und das Axiom der Sicherheitspolitik im Bündnis europaweit Leitlinien der Politik waren. Clark schafft es immer wieder, bekannte Ereignisse und Strukturen zu hinterfragen und sie mit weniger bekannten Aspekten in Verbindung zu bringen. Hier sieht man die beeindruckende Kreativität eines Historikers am Werk, der eine überbordende Fülle an Fakten, Quellen und Akteuren scheinbar mühelos beherrscht und zu einer Synthese verdichtet.

Dabei räumt Clark mit einigen Vorannahmen auf, die in Teilen der Forschung zur Vorkriegszeit kursieren. Immer wieder hält er dem Leser bekannt klingende Umstände vor Augen, um sie dann zu differenzieren und abschließend zu einem eigenständigen (und in Einzelfällen durchaus diskussionswürdigen Urteilen) zu kommen. Am Beispiel des Abschnitts über „Presse und öffentliche Meinung“ (298-315) lässt sich dies gut zeigen. Zunächst weist Clark auf die unappetitlichen Äußerungen der meinungsstarken radikalnationalistischen Presse hin, die lange als Beleg für eine kriegslüsterne Öffentlichkeit vor allem in Deutschland herhalten musste. Dann zeigt er, dass die Politik ein ambivalentes Verhältnis zur Presse hatte und die historische Komplexität eine eindeutige Aussage unmöglich macht. Einerseits zogen Politiker Zeitungen heran, um Informationen zu erhalten und etwas über die sogenannte öffentliche Meinung zu erfahren. Andererseits unterhielten die meisten Regierungen Pressebüros, über die Artikel und Informationen lanciert wurden. Die Vermutung, dass hinter einer nationalistischen Erregungswelle oder provokanten Artikeln staatliche Stellen steckten, führte dazu, dass Zeitungen in den europäischen Hauptstädten akribisch ausgewertet wurden. Das artete zuweilen in eine regelrechte Kaffeesatzleserei aus – mit der Folge, dass es zu gesteigertem Misstrauen und fatalen Fehldeutungen kam. Clark betont, dass die Politik niemals eine effiziente Kontrolle über die Presse ausübte, aber zuweilen behauptete, dass Zeitungen die Notwendigkeiten politischen Handelns vorgegeben hätten. Die Entscheidungsträger in Europas Hauptstädten legten aber auch Wert auf die Feststellung, dass sie trotz zeitweise tobender „Pressekriege“ eigenständig handelten. Dieser Selbsteinschätzung stimmt Clark im Grunde zu.

Im Rahmen der ganz vorzüglichen Darstellung und der vorgenommenen Neubewertungen – vor allem was die Rolle Österreich-Ungarns und Serbiens vor 1914 angeht – ist doch auffällig, dass es sich bei „Die Schlafwandler“ ganz überwiegend um eine Politikgeschichte im konventionellen Rahmen handelt. Nur am Rande fließen Befunde der Mentalitäts- und Kulturgeschichte in die Analyse ein. Auch hier erweist sich Clark als profunder Kenner der Debatten. Allerdings hätte man gern mehr über den Einfluss von Genderfragen, Emotionen (Angst und Ehre spielen immer wieder eine Rolle, werden aber nicht systematisch diskutiert) oder der Rolle der Zukunft im zeitgenössischen Denken erfahren. Möglicherweise war der Einfluss der Presse – um beim Beispiel zu bleiben – und der anderen Publizistik auf die Ausformung der Mentalitäten (und vice versa) doch bedeutender, als angenommen. Hier sagt das Buch zu wenig, und die Kulturgeschichte des Politischen müsste jetzt zeigen, was wir jenseits des von Clark Gesagten über die Vorkriegszeit wissen können, wenn wir ihre Fragen und Methoden ernst nehmen.

Auch Krumeich verfolgt vor allem die „high politics“ der Epoche, weil er davon ausgeht, dass die politischen Eliten im Juli 1914 nach ganz eigenen Prämissen handelten und sich nicht von der öffentlichen Meinung beeinflussen ließen. Krumeich hat ein Buch geschrieben, dessen erklärtes Ziel es ist, einer breiten interessierten Öffentlichkeit zu erläutern, welche Faktoren in der Julikrise von Bedeutung waren. Dieses Ansinnen spiegelt sich in der klaren Struktur des Werkes, die einen raschen Zugriff auf einzelne Themen erlaubt (das Buch von Clark ist hier weniger übersichtlich, aber dafür mit einem wunderbaren Sachregister ausgestattet). Zunächst erfolgt eine Einordnung der internationalen Beziehungen und politischen Prämissen in der Vorkriegszeit, die unter starkem Fokus auf das Deutsche Reich erörtert werden. Anschließend werden die Intentionen und Maßnahmen der europäischen Großmächte (ohne Italien) seit dem Mord an Franz Ferdinand diskutiert, woraufhin die politischen Entscheidungen wiederum auf gesamteuropäischer Ebene minutiös nachgezeichnet werden. In der Einleitung und im Epilog findet sich eine kundige Einordnung vor allem der älteren Forschung zum Thema, die auch weniger bekannte Dokumentationen und Positionen zutage fördert und Appetit darauf macht, diese Bücher (Krumeich dokumentiert eine Fülle von Material aus den 1920er Jahren) noch einmal zur Hand zu nehmen. Das Buch ist auch für Leser geeignet, die sich dem Komplex zum ersten Mal aus einer wissenschaftlichen Perspektive annähern wollen. Immer wieder fließen umstrittene Forschungsfragen in die Darstellung ein. Der Text ist aus den Quellen gearbeitet, von denen sich in einem Anhang 50 „Schlüsseldokumente“ abgedruckt finden.

Einige Aspekte des Buches, die Forschungskontroversen berühren, seien hier hervorgehoben. Krumeich kann – anders als es beispielsweise Stig Förster immer wieder betont hat – in Übereinstimmung mit Wolfgang Mommsen und Clark nicht erkennen, dass Theobald von Bethmann Hollweg am 28. Juli die Krise durch eigenmächtiges Handeln weiter verschärft habe. Auch betont er im Gegensatz zu anderen Positionen, dass die deutschen Entscheidungsträger ganz überwiegend davon ausgingen, dass der Krieg nur wenige Monate dauern würde. Weiterhin stimmt er mit der These, im Grunde hätten die Zeitgenossen einen Krieg für höchst unwahrscheinlich gehalten (so haben zuletzt Holger Afflerbach, Friedrich Kießling und David Stevenson argumentiert), nicht überein. Die Arbeiten von Clark und Krumeich unterscheiden sich hinsichtlich der Reaktion des russische Außenministers Sergei Sasonow auf das österreich-ungarische Ultimatum an Serbien. Clark betont, dass die russische Regierung durch Indiskretionen bereits am 20. Juli über dessen Inhalt im Bilde gewesen sei. Die empörte Reaktion, die Sasonow gegenüber dem österreich-ungarischen Botschafter in St. Petersburg, Friedrich von Szápáry, zeigte, sei deshalb reiner „Unfug“ gewesen (549). Krumeich indes geht davon aus, dass Sasonow angesichts der Tatsache des Ultimatums „von echtem Zorn“ geschüttelt wurde (114 Anm. 30). Hier wäre es an der Emotionengeschichte zu untersuchen, welche Rolle Angst oder Wut in der Krise spielten. Es steht zu vermuten, dass sie einerseits politische Entscheidungen bestimmt haben, sie andererseits aber auch in der politischen Kommunikation eingesetzt wurden. Krumeich jedenfalls kann immer wieder zeigen, wie präsent diese Gefühle in der Julikrise waren, ohne indes einen engeren emotionsgeschichtlichen Ansatz zu verfolgen [1].

Wie bewerten beide Autoren die individuellen und kollektiven Dispositionen der politischen Eliten Europas? Der wichtigste und bleibende Aspekt des Buches von Clark ist sicherlich die Neuvermessung ihres Denkens und Handelns, das schließlich zum Kriegsausbruch geführt hat. Sein Verdienst ist es, durch seinen groß angelegten, wirklich europäischen Vergleich die deutsche Politik ein Stück weit zu relativieren. Sie stand vor allem hierzulande seit den Thesen Fischers und seiner Schüler im Mittelpunkt der Deutungsversuche des Kriegsausbruchs – mit der Folge, dass die Intentionen und Denkweisen der anderen Mächte kaum in Betracht gezogen wurden. Das deutsche Weltmachtstreben erschien damit als bedrohlicher Solitär. Dabei lässt sich, das hat Clark eindrücklich gezeigt, jeder chauvinistischen Äußerung von deutscher Seite eine ähnliche aus Frankreich oder Russland an die Seite stellen. Das soll und kann nichts entschuldigen (was ohnehin keine historiographische Kategorie ist, aber in der Debatte immer wieder eine Rolle spielt), sondern macht deutlich, dass gefährliche Ideen gepaart mit einer gehörigen Risikobereitschaft in allen Hauptstädten Europas zu finden waren. Stärker als Clark gewichtet Krumeich die objektiven Faktoren, welche auf die Politik einwirkten: die Bedingungen der Bündnissysteme und der internationalen Politik, den Imperialismus, die militärischen Optionen. Mit Koselleck ließe sich sagen: Während Clark den Quellenbegriffen und zeitgenössischen Erfahrungswelten den Vorrang gibt, entwirft Krumeich historiographische Kategorien und Forschungsbegriffe, welche über weite Strecken der Maßstab seiner Analyse sind. Häufiger als Clark es tut wechselt Krumeich zwischen beiden Ebenen (und kann sich stellenweise polemische Bemerkungen über die deutsche Führungsriege nicht verkneifen). In diesem Zuge urteilt der Autor, dass die deutschen Entscheidungsträger auf die diplomatische Niederlage nach der ersten Marokkokrise mit einer „charakteristischen wie überflüssigen Gereiztheit“ reagiert hätten, die allerdings „von den Zeitgenossen als Realität empfunden“ worden sei (25f.). Vor allem im ersten Abschnitt von „Juli 1914“ geht es stärker um die objektiven Faktoren, während in den Abschnitten zur Julikrise selbst die Getriebenheit der Akteure herausgearbeitet wird. Es sei vor allem die „ausgeprägte Zukunftsangst“ der Deutschen gewesen (184), die die fatalen Weichenstellungen des Juli 1914 ermöglicht habe. Um es auf den Punkt zu bringen: Was die langfristigen Entwicklungen hin zum Jahr 1914 angeht, bringt Clark ein weitaus größeres Verständnis für die deutschen weltpolitischen Begehrlichkeiten auf, als Krumeich es tut. Dennoch zeigt letzterer, dass eben nicht die objektiven Faktoren das Handeln bestimmt haben, „sondern das, was von den Zeitgenossen als Realität empfunden wurde“ (26).

Krumeich sieht anders als Clark, der implizit immer wieder auf Frankreich und Russland deutet, die Kriegsschuld bei Deutschland und Österreich-Ungarn. Das gelte aber nur für die letzte Entscheidung zum Krieg, so der Autor. Langfristig habe die Politik aller Mächte dazu beigetragen, dass Europa auf einem Haufen Dynamit saß. Diese unterschiedlichen Einschätzungen zeigen, dass das letzte Wort in dieser Frage noch nicht gesprochen ist. Letztlich wird die Debatte weitergehen, weil sich dieselben Dokumente unterschiedlich gewichten und sich aus ihnen verschiedene Schlüsse ziehen lassen (die Quellenbasis hat sich seit den 1920er Jahren nicht wesentlich erweitert). Die Arbeiten von Clark und Krumeich geben indes dem Leser indes streitbare Thesen und ein umfangreiches Material an die Hand, mit dem er sich ein eigenes Urteil bilden mag.

[1] Siehe dazu Patrick Bormann, Furcht und Angst als Faktoren deutscher Weltpolitik 1897-1914. In: Patrick Bormann/Thomas Freiberger/Judith Michel (Hrsg.), Angst in den internationalen Beziehungen, Bonn 2010, S. 71-92; weiterhin Stig Förster, Angst und Panik. „Unsachliche“ Einflüsse im politisch-militärischen Denken des Kaiserreiches und die Ursachen des Ersten Weltkriegs. In: Birgit Aschmann (Hrsg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2005, S. 74-85.

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