Christoph Nübel
Miszelle
Veröffentlicht am: 
30. März 2015

Das Kriegsende 1945 unterbrach die Organisationsgeschichte des deutschen Militärs, mit der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 begann sie wieder, zumindest offiziell. Faktisch hatte bereits der 1951 aufgestellte Bundesgrenzschutz einen paramilitärischen Charakter und fungierte seit 1955 als Personal- und Praxisreservoir für zukünftige westdeutsche Streitkräfte. Dasselbe galt für die anderen Polizeien und Dienstgruppen, die jetzt gegründet wurden. Die deutschen Minenräumverbände, welche unter alliierter Kontrolle die Hinterlassenschaften des Krieges in Nord- und Ostsee beseitigten, spielten eine ganz ähnliche Rolle für den Aufbau der Marine. Das "Amt Blank" fungierte seit 1950 als Vorgängerinstitution des 1955 eingerichteten Bundesministeriums der Verteidigung mit dem Minister Theodor Blank. Zahlreiche informelle Zirkel aus Wehrmachtsoffizieren, die Kontakte bis in die höchsten Ebenen der Politik unterhielten, hatten sich bereits vor Gründung der Bundesrepublik gebildet und betrieben Lobbyarbeit für die Gründung einer neuen Armee. Insofern entstand die Bundeswehr keineswegs "aus dem Nichts", wie Blank im Juni 1955 vor dem Bundestag behauptete, 1 sondern war ein Kind bereits existierender Organisationen. Damit ergibt sich eine größere Kontinuität der deutschen Militärgeschichte, als auf den ersten Blick vermutet werden kann. Die zehn Jahre vor 1955 sollten jedenfalls nicht als eine lange Stunde Null der bewaffneten Macht in Deutschland betrachtet werden - trotz des Beschlusses des Alliierten Kontrollrates, Deutschland zu entmilitarisieren.

Die Politik macht das Militär

Die sich stetig verschärfende Konfrontation zwischen den Verbündeten des Zweiten Weltkrieges ließ vor allem in den USA und Großbritannien Widerstände gegen die Aufstellung einer Armee im westdeutschen Staat schwinden. Zu sehr war deutlich, dass man auf die Wirtschaftskraft und potentiellen Soldaten, welche die Bundesrepublik im westlichen Bündnis beisteuern könnte, nicht würde verzichten können. Erleichtert wurde diese Entscheidung dadurch, dass sich in der Bundesrepublik bereits in den ersten Jahren nach der Gründung eine gewisse politische Stabilität abzeichnete, welche die Bundesrepublik als verlässlichen Partner erscheinen ließ. Auch gewann die Idee an Boden, eventuelle deutsche Machtambitionen durch eine bündnispolitische Integration schon im Ansatz ersticken zu können.

Bundeskanzler Konrad Adenauer betrachtete die Bundeswehr als Instrument der Westintegration. Auf diese Weise wollte er sein vorrangiges Ziel erreichen, der Bundesrepublik, die 1949 unter erheblicher Einschränkung ihrer staatlichen Souveränität gegründet worden war, eben jene Rechte zu erkämpfen. Souveränitätsrechte im Tausch für die Aufstellung einer Armee: Das ist ein Paradoxon, das die Ausnahmesituation der jungen Bundesrepublik beleuchtet. Während die bewaffnete Macht im Normalfall als Bestandteil der Staatsgewalt die Souveränität sichert, sollte sie nach 1949 dazu dienen, eine begrenzte deutsche Souveränität überhaupt erst herzustellen.

Der Plan einer "Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" scheiterte 1954 an Frankreich. Nun war der Weg für den Beitritt der Bundesrepublik zur NATO frei, der ein Jahr später erfolgte. Damit gewann der westdeutsche Staat eine verteidigungspolitisch beschränkte Souveränität und wurde festes Mitglied im Bündnis. Dieser Prozess war innenpolitisch von Protesten gegen die Wiederbewaffnung begleitet. Sie waren Ausweis einer militärkritischen Haltung breiter Bevölkerungskreise. Die gesellschaftlichen und politischen Debatten wurden entsprechend engagiert geführt, aber Adenauers Politik setzte sich durch. Das war nicht nur Folge des Beschlusses, bestimmte Altersgruppen nicht zum Wehrdienst heranzuziehen - die "weißen Jahrgänge", aus denen sich viele Demonstranten rekrutierten. Vielmehr machten Ereignisse wie die Berliner Blockade 1948/49 oder der Koreakrieg 1950 deutlich, dass sich eine bedrohliche weltpolitische Lage zusammenbraute, die einen militärischen Beitrag der Bundesrepublik im westlichen Bündnis erforderlich machte. Der verbreitete Antikommunismus hat die Akzeptanz für die Aufstellung einer Armee, die unter freiheitlich-demokratischer Flagge de facto gegen die Sowjetunion Stellung bezog, zusätzlich befördert. Erklärtes Ziel war es, in wenigen Jahren eine Truppe von 500.000 Mann aufzubauen.

Zwischen Innovation und Tradition

Die frühe Bundeswehr glich einem Provisorium. Obgleich im Verborgenen organisatorische Vorbereitungen für die Aufstellung getroffen worden waren, gab es für die ersten 101 Soldaten, die am 12. November 1955 einrückten, zu wenige Uniformen. Im April 1957 folgten die ersten 10.000 Grundwehrdienstleistenden, denen es an passender Dienstkleidung und Winterausrüstung mangelte. Großgerät wie Panzer, geschweige denn Flugzeuge, waren zunächst gar nicht vorhanden.

Seither gilt der 12. November 1955 als Gründungstag der Bundeswehr. Dieses Datum war mit Bedacht gewählt, denn es handelte sich um den 200. Geburtstag des preußischen Militärreformers Gerhard von Scharnhorst. Mit dieser Symbolpolitik unterstrichen Politiker und Militärs öffentlich, dass die Bundeswehr nicht in der Tradition der Wehrmacht stehen sollte. Das legten ehemalige Wehrmachtsoffiziere, die sich auf Geheiß der Bundesregierung ausgerechnet in einem Zisterzienserkloster trafen, bereits 1950 fest. In der sogenannten "Himmeroder Denkschrift" hieß es, dass "die Voraussetzungen für den Neuaufbau" einer deutsche Armee "von denen der Vergangenheit so verschieden" seien, dass "ohne Anlehnung an die Formen der Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist". 2Dieser Satz war indes weniger der pastoralen und geistlichen Atmosphäre des Klosters geschuldet, sondern Ergebnis eines ersten Machtkampfes zwischen Traditionalisten und Reformern. Ihm sollten noch zahlreiche weitere Folgen.

Keine Armee ohne Traditionen - das galt auch für die junge Bundeswehr. Allerdings lag es nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges nahe, dass ein vorbehaltloses Anknüpfen an Elemente der deutschen Militärgeschichte nicht ohne weiteres möglich sein würde. Das sahen nicht alle so. Ein rechtskonservativer Kreis von Wehrmachtgenerälen propagierte offen die unhinterfragte Wiederbelebung alter Traditionsbestände. Auch in Himmerod saßen sie mit am Tisch und verankerten in der Denkschrift neben der vielzitierten Neuerungsformel auch das Bild der ehrenvollen und tapferen Wehrmacht. Ihre Ansichten waren einflussreich, weil sie sich der Rückendeckung durch weite Teile der Politik erfreuen konnten. Adenauer war der Überzeugung, auch dieser Kräfte zu bedürfen. Viele Politiker teilten außerdem die Auffassung, die Werte des deutschen Soldatentums seien vom Nationalsozialismus missbraucht worden, stellten im Grunde aber erhaltenswürdige soziopolitische Normen dar. Die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Traditionalisten, die sich bis in die 1980er Jahre hinzog, macht das Bild der Bundeswehr in dieser Zeit ambivalent und erklärt den ausgesprochenen Kompromisscharakter zahlreicher Denk- und Vorschriften.

Gleichwohl konnten sich die progressiven Kräfte zunächst mit der Grundidee durchsetzen, dass die Bundeswehr kein institutioneller Wurmfortsatz von Reichswehr und Wehrmacht sein könne und die Weichen auf Demokratie zu stellen seien. Das gelang sicherlich auch, weil die Alliierten die deutsche Wiederbewaffnung kritisch begleiteten und damit zu weitreichende rechtskonservative Kapriolen ausschlossen. Die um 1955 gefundenen und erfundenen Traditionen der Bundeswehr schlossen auf breiter Linie an die Geschichte der preußischen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts an. Mit ihnen sollte nach 1807 das von Napoleon in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt geschlagene Preußen wieder kriegsbereit gemacht werden. Diese Zeit wurde als positives Vergangenheitsbild gebraucht, an das ein deutsches Militär würde anknüpfen können. Zugleich wurde sie als Beispiel dafür interpretiert, dass "Verbundenheit zwischen Volk und Armee" zu stärken sei, wie Verteidigungsminister Blank 1955 formulierte.3 Die Ideen der Militärreformer des 19. Jahrhunderts schienen dazu besonders geeignet, waren Scharnhorst, August Neidhardt von Gneisenau, Carl von Clausewitz und andere doch davon überzeugt, dass nur ausreichend gebildete und mit bürgerlichen Rechten ausgestattete Soldaten gute Vaterlandsverteidiger seien. Diese Auffassung vertrug sich hervorragend mit dem Geist der progressiven Kräfte in der Aufbauphase des deutschen Militärs um Wolf Graf von Baudissin, Johann Adolf Graf von Kielmansegg und Ulrich de Maizière.

Die Reformer setzten Akzente, mit denen die Bundeswehr als völlig neues Militär präsentiert werden sollte, das den unseligen deutschen Militärtraditionen entsagt hatte. In einem persönlich gefärbten Aufsatz definierte de Maizière 2005 vier "Prinzipien", welche das Neue in der Bundeswehr verkörperten. 4 Zuerst ist die konsequente Ausrichtung auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik zu nennen. Das bedeutete, dass die alte Frage nach dem Primat des Militärs oder der Politik in Fragen der Streitkräfte- und Kriegführung erstmals in der deutschen Geschichte eindeutig zugunsten der letzteren entschieden wurde. Einsätze unterlagen dem Parlamentsvorbehalt. Das 1957 nach schwedischem Vorbild eingerichtete Amt des Wehrbeauftragten war als Schnittstelle zwischen Parlament und Streitkräftebasis gedacht, das Ausrüstungsmängel oder Defizite bei der Umsetzung der militärischen Menschenführung bekannt machen sollte. Die Soldaten galten nicht mehr als bloße Verfügungsmasse, sondern als Staatsbürger in Uniform, die klare Pflichten in der Militärhierarchie hatten, aber auch Rechte genossen. Das Prinzip der "Inneren Führung" legte fest, dass Rechtsstaatlichkeit und Demokratie Grundsätze des militärischen Denkens waren, und ersetzte das Konzept des "blinden Gehorsams" durch die Idee eines reflektierten und kritischen Verhältnisses von Vorgesetzten und Befehlsempfängern. Die Soldaten sollten ihre Bürgerrechte behalten, wenn auch mit notwendigen Einschränkungen. Das strich der Verteidigungsminister bei seiner Rede während der Vereidigung der ersten Bundeswehrangehörigen 1955 heraus: "In entscheidendem Maße wird es auf die Menschen ankommen und auf den Geist, mit dem diese Menschen an ihre Aufgabe herangehen." 5

Zweitens basierte die Bundeswehr auf dem Prinzip, eine Armee der Verteidigung zu sein und, so hält es das Grundgesetz fest, eine "friedliche und dauerhafte Ordnung" zu sichern. Die Bundeswehr war drittens eine Armee, die in vielschichtiger Weise in ein internationales Militärbündnis mit supranationalen Strukturen eingewoben war. Das brachte Sicherheit für die Bundesrepublik, zugleich band es die deutschen Streitkräfte. Das entsprach einem anerkannten Prinzip, das der erste NATO-Generalsekretär Baron Ismay so formulierte: Die NATO habe das Ziel "to keep the Russians out, to keep the Americans in, and to keep the Germans down". 6 Viertens schließlich wurde versucht, die drei Teilstreitkräfte durch gemeinsame Strukturen eng aneinander zu binden und damit ein selbstbezogenes Denken in Heer, Luftwaffe und Marine zu verhindern. Dies wurde vor allem im Bereich der Verwaltung durchgesetzt.

Diese Prinzipien wurden keineswegs mit der Gründung der Bundeswehr zur alltäglichen Praxis. Traditionalisten griffen das Programm der Reformer bis in die 1980er-Jahre hinein immer wieder an und erzwangen zeitweise signifikante Kursänderungen. Das traf auf Akzeptanz in der Truppe, deren Offizierskorps sich zwangsläufig zu einem großen Teil aus der Wehrmacht rekrutierte. 10 % aller 6400 Ritterkreuzträger der Wehrmacht waren in die Bundeswehr eingetreten. Gleichwohl wurde die alte Garde keineswegs kritiklos in den Militärdienst der Bundesrepublik übernommen. Die Bundeswehr siebte aus und stellte von den etwa 40.000 Bewerbern, die vor 1945 Offiziere gewesen waren, lediglich 10.000 ein. 7 Ein Hort der freiheitlichen Demokratie konnte die Bundeswehr in ihrer Gründungszeit dennoch kaum werden, und es hätte auch dem Zeitgeist widersprochen. In der Bevölkerung genossen die Farben Schwarz-Weiß-Rot um 1950 immer noch größere Sympathien als Schwarz-Rot-Gold, Hitler und Bismarck galten als große Deutsche vor Adenauer, der erst nach 1953 beliebter als Hitler war.

Die Umsetzung der neuen Prinzipien und die "invention of tradition" waren in der jungen Armee von täglichen Auseinandersetzungen begleitet. Trotz des starken Gegenwindes konnten sich die Reformer in den entscheidenden ersten Jahren der Bundeswehr immer wieder mit ihren Ideen behaupten. Gleichwohl verband sich damit keine lineare Erfolgsgeschichte. Der Wehrbeauftragte musste sich seine Anerkennung erst hart erkämpfen. Sein Erfolg war lange Zeit von der Persönlichkeit des Amtsinhabers und von der Akzeptanz in der Truppe abhängig. Auch das Bild des Soldaten als "Staatsbürgers in Uniform" wurde nicht überall umgesetzt, wie der Tod des Rekruten Gerd Trimborn und der Skandal um die "Schleifer von Nagold" 1963 ebenso zeigten wie zahlreiche andere Affären und rückwärtsgewandte Interventionen. Viele dieser Ereignisse gerieten indes zu einem öffentlichen Skandal und hatten Konsequenzen für den Dienstbetrieb der Bundeswehr. Das macht deutlich, dass die Aufklärungsmechanismen von Staat, Öffentlichkeit und bewaffneter Macht grundlegend funktionierten. Die schillernde Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass Armee und Gesellschaft ihr Verhältnis zu allem Militärischen neu justiert hatten.

Literaturauswahl zur Geschichte der Bundeswehr

  • Detlef Bald, Die Bundeswehr. Eine kritische Geschichte 1955-2005, München 2005.
  • Klaus-Jürgen Bremm/Hans-Hubertus Mack/Marin Rink (Hrsg.), Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005, Freiburg i. Br./Berlin 2005.
  • Hans-Joachim Harder/Norbert Wiggershaus, Tradition und Reform in den Aufbaujahren der Bundeswehr, Herford/Bonn 1985.
  • Martin Kutz, Umbruchszeiten. Militär und Gesellschaft 1945-2010, in: Dierk Spreen/Trutz von Tropha (Hrsg.), Krieg und Zivilgesellschaft, Berlin 2012.
  • Loretana de Libero, Tradition in Zeiten der Transformation: Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen 21. Jahrhundert, Paderborn 2006.
  • Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1949-1959, 4 Bände, München 1982-1997.
  • Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven, München 2007.
  • 1. Zit. n. John Zimmermann, Vom Umgang mit der Vergangenheit. Zur historischen Bildung und Traditionspflege in der Bundeswehr, in: Frank Nägler (Hrsg.), Die Bundeswehr 1955 bis 2005. Rückblenden, Einsichten, Perspektiven, München 2007, S. 115-129, S. 118.
  • 2. Zit. n. Loretana de Libero, Tradition in Zeiten der Transformation: Zum Traditionsverständnis der Bundeswehr im frühen 21. Jahrhundert, Paderborn 2006, S. 205.
  • 3. Zit. n. Matthias Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr. Personelle Kontinuität und Diskontinuität beim Aufbau der deutschen Streitkräfte 1955-1966, Univ. Diss. Heidelberg 2007, S. 646.
  • 4. Ulrich de Maizière, Was war neu an der Bundeswehr? Betrachtungen eines Zeitzeugen, in: Klaus-Jürgen Bremm/Hans-Hubertus Mack/Marin Rink (Hrsg.), Entschieden für Frieden. 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005, Freiburg i. Br./Berlin 2005, S. 11-15.
  • 5. Zit. n. Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr, S. 645.
  • 6. Wilfried von Bredow, Die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, 2. Aufl. Wiesbaden 2008, S. 237.
  • 7. Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr, S. 403, 407.