Miszelle
Veröffentlicht am: 
22. September 2012

Anlässlich der Jahrestagung 2012 des Arbeitskreises Militärgeschichte e. V. in Osnabrück wurde am 21. September 2012 zum siebten Mal der Wilhelm-Deist-Preis für Militärgeschichte verliehen. Ausgezeichnet wurde Christian Kretschmer für eine 2012 am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg eingereichte Magisterarbeit mit dem Titel "'Umlegen, umlegen, es gibt keine Gefangenen!' Die Radikalisierung des deutschen Kriegsgefangenenwesens und die 'Mühlviertler Hasenjagd' im Frühjahr 1945". Der Wilhelm-Deist-Preis ist mit € 500,00 dotiert.

Laudatio:

Diese Arbeit ist gut geschrieben und noch besser recherchiert. Nach einer Erörterung des Quarantäneblocks 20 in Mauthausen, der den SS Wachen als "Trainingslager" gedient haben soll und zur Enthemmung wesentlich beitrug, wird die Verflechtung von Terror und Ideologie am Beispiel der sogenannten "Mühlvierteler Hasenjagd" thematisiert. Dabei geht es um den Massenausbruch von 500 sowjetischen Offizieren aus besagtem Block 20 im KL Mauthausen vom Februar 1945, die jedoch schon nach kurzer Zeit fast ausnahmslos und unter "tatkräftiger" Mithilfe einfacherer Formationen wie HJ, Landwehr und Feuerwehr sowie der Zivilbevölkerung gefasst und exekutiert wurden. Insbesondere der Genese des "Kugelbefehls" zur Erschießung sowjetischer Offiziere im KL Mauthausen und der Frage der Handlungsmotivation subalterner Formationen und Zivilisten bei Mordbefehlen wird breiter Raum eingeräumt.

Die Arbeit geht weit über eine normale Magisterarbeit hinaus und besticht durch eine unglaubliche Quellendichte. Sie liefert dadurch tatsächlich neue Erkenntnisse zum Thema Kriegsgefangenenwesen und Kompetenzgerangel zwischen Wehrmacht und SS. Als Student der Universität Freiburg hatte der Autor den Vorteil, dass er ohne größeren Aufwand im Militärarchiv und im Freiburger Staatsarchiv arbeiten konnte. Zudem hatte er noch in 12 weiteren Archiven Recherchen durchgeführt, und zwar: Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, Wien; Oberösterreichisches Landesarchiv, Linz; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes; Internationaler Suchdienst, Bad-Arolsen; Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München; Staatsarchiv, München; Staatsarchiv, Nürnberg; Staatsarchiv, Sigmaringen; Bundesarchiv, Berlin; Hauptstaatsarchiv, Stuttgart; IfZ, München; Landesarchiv NRW, Düsseldorf. Hinzu kommen natürlich noch die gedruckten Quellen. Eine schnelle Überprüfung der 647 Anmerkungen bezeugt, dass Materie aus all diesen Archiven tatsächlich verwendet worden ist.

Besonders gelungen ist Kretschmers Analyseteil, wo er den Fragen nach allmählicher Überforderungen der Wehrmacht mit den Unmassen an Kriegsgefangenen und die daraus resultierende Strategie der SS zur Übernahme dieser Gefangenen und ihrer sadistischen Vernichtung anschneidet. Der Verfasser zeigt Leidenschaft aber auch Fingerspitzengefühl für sein Thema. Darüber hinaus erreicht er eine wissenschaftliche Stringenz und einen Grad der Klarheit und Ausgewogenheit in der Präsentierung seiner Ergebnisse, die komplexe Entwicklungen und die ineinander greifenden Faktoren verständlich erklärt. Beklemmend dargestellt ist die Frage nach der Handlungsmotivation und der Spirale der Gewalt, die sich, angesichts der nahenden Frontlinie unverständlich, noch zu Exzessen steigerte und Raum für "Übereifrige" bot, die sich dadurch für eine weitere Karriere (wo auch immer) empfehlen wollten.

Die Arbeit leistet einen Beitrag zur modernen Militärgeschichte, bietet gute handwerkliche Qualität in der Analyse der verflochtenen NS-Institutionen, thematisiert das Phänomen "Flucht" und Kriegsgefangenschaft, ist auf der Höhe des Forschungsstandes und trägt somit auch die Handschrift des Betreuers, des Kollegen Rüdiger Overmans. Zudem ist sie sprachlich auf einem sehr guten Niveau geschrieben und wird wohl zu einer Doktorarbeit ausgebaut werden, ihr Potential also noch weiter entfalten, was man sehr wünschen möchte.

(Dr. Kerstin von Lingen)