Raum und Körper im Ersten Weltkrieg
John Zimmermann
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
28. Dezember 2015

 Die 100. Wiederkehr des Beginns des Ersten Weltkrieges hat im vergangenen Jahr eine Menge neuer Literatur auf den Markt gebracht. Manche dieser Werke, wie Christopher Clarks Sleepwalkers oder Herfried Münklers Der Große Krieg, brachten im Vergleich zu ihrem medialen Echo fachlich wenig Neues, andere wiederum lieferten interessante Einsichten, blieben in der veröffentlichten Meinung allerdings kaum beachtet. Eine dieser 2014 erschienenen Arbeiten ist die Dissertation von Christoph Nübel. Im Unterschied zu Clark und Münkler steht bei ihm nicht die Machtpolitik im Zentrum des Erkenntnisinteresses, sondern der Raum.

Nun ist die Beschäftigung mit dem Raum keine wirkliche Neuerung. Dass er sich im Gegenteil zu einem bevorzugten Forschungsgegenstand nicht nur in der Geschichtswissenschaft entwickelt hat, weiß freilich auch Nübel. Was seine Annäherung von besonderem Interesse werden lässt, ist jedoch gerade die Verknüpfung der Frage des Raumes mit dem Ersten Weltkrieg. Denn bereits Zeitgenossen wählten diesen Zugang, um die Dimensionen dieses ersten großen totalisierten Krieges in Europa erfassen und darstellen zu können. „[D]iese offensichtliche Nähe von Krieg und Raum“ (5) stellt für den Autor die Basis dar, auf welcher er seine Untersuchung beginnt. Konkret geht es ihm um die Frage, „wie sich die deutschen Soldaten an die räumlichen Bedingungen und Eindrücke der Westfront anpassten“ (7).

Seine Arbeit teilt Nübel in drei große Kapitel. Dabei geht er von der „Umwelt“ und was sie für „[D]ie Lebensbedingungen im Frontgebiet“ (27-98) bedeuten, über das „Gelände“ mit seinen Konsequenzen für die „Taktik und Ausbildung im Stellungskrieg“ (99-206) zur „Landschaft“ und seiner Analyse der „Westfront als Kriegsschauplatz“ (207-354) äußerst konzise vor. Eine präzise Schlussbetrachtung nebst Ausblick (355-375) rundet seine Arbeit ab, die er um einen umfangreichen Anhang ergänzt hat (379-484). Insbesondere die ausgewählten Abbildungen liefern wertvolle Visualisierungen des Gelesenen; allerdings wünschte man sie sich im Fließtext, doch das muss man wohl dem Verlag eher ankreiden denn dem Verfasser. Hilfreich sind indes die abschließenden Register für geografische Orte und Personen.

Apropos Geographie: Analytisch beschränkt Nübel sich auf die Westfront, die er freilich nicht als einen monolithischen Raum begreift und deswegen in einer knappen Skizze vorstellt (21-25). Dabei arbeitet er für ihn relevante „fünf Kriegstheater“ heraus: Flandern, Somme, Champagne, Verdun und Vogesen (22) und stellt sie kartografisch zur Verfügung (Abb. 29, 400). Flandern und Somme sieht er dabei als „den Angelpunkt der Kriegführung im Ersten Weltkrieg“ (23).

Um hier zu greifbaren Ergebnissen zu kommen, hat er eine beeindruckende Fülle an Literatur ausgewertet und sich eine breite Quellengrundlage verschafft: Sie reicht von den einschlägigen militärischen Akten über Tagebücher, Feldpostbriefe und -karten sowie Feldzeitungen bis hin zu Beiträgen von Hygienikern, Medizinern und Psychologen; seine schriftlichen Quellen ergänzt Nübel durch publizierte und private Bilder, Zeichnungen und Skizzen, die er als „Repräsentationen der Raumschichten Umwelt, Gelände und Landschaft“ versteht (21) und in Auswahl in seinem Anhang präsentiert.

Als besonders lesefreundlich erweist sich das Vorgehen des Verfassers, seine Hauptkapitel mit kurzen Zusammenfassungen der Zwischenergebnisse zu beenden. Hinsichtlich der Lebensbedingungen im Frontgebiet verdeutlicht Nübel, dass die Soldaten beider Seiten unter den Umwelteinflüssen nicht weniger zu leiden hatten wie unter den Gefechten, die freilich einander bedingten: „Kälte und Nässe machten einen elementaren Bestandteil der Kriegserfahrungen sämtlicher an der Westfront eingesetzten Soldaten aus. (…) Regenfälle ließen die mühsam ausgehobenen Schützengräben ebenso häufig einstürzen wie Artilleriebeschuss“ (97). Diese Erkenntnis mag auf den ersten Blick profan erscheinen, jedoch wurden und werden derartige Befunde in der Militärgeschichte gerne marginalisiert. Denn obwohl „viele Soldaten die schlimmsten Belastungen des Stellungskrieges weniger in den Kämpfen als in den Umweltbedingungen sahen“, wischten zeitgenössische Experten solche Einsicht mit dem Verweis beiseite, „der moderne Mensch [sei] durch den Einfluss der Kultur degeneriert“ (Ebd.). Infolgedessen sei „[d]er tägliche Kampf ums Überleben […] ein willkommenes Mittel, dem vermeintlich degenerierten modernen Menschen zu ursprünglicher Kraft und Stärke zu verhelfen“ (Ebd.). Gleichwohl reagierte der militärische Apparat insoweit darauf, als die Erhaltung der Kampfkraft des Soldaten nun in den Fokus von Befehlen und Dienstvorschriften geriet (98).

Damit einher ging in den Planungen der militärischen Operationen durchaus ein Paradigmenwechsel: Der Raum wurde fortan nicht mehr leer gedacht, vielmehr beeinflusste das Gelände „durch seine Beschaffenheit und die mit ihm verbundenen Vorstellungen sowohl Kriegführung als auch Taktiken“ (205). Unter den Bedingungen des Stellungskrieges im Westen wuchs die Bedeutung des Geländes derart, dass dem einzelnen Soldaten nun mittels eines umfassenden Geländetrainings weit reichende Geländekenntnis vermittelt werden musste. Im Kontext zunehmend komplexerer Waffenwirkung vermochte er sich sonst weder zu orientieren noch seine eigene Leistungsfähigkeit zeitgerecht abzurufen. Ab 1916 wurde die entsprechende Ausbildung, bis dahin von den jeweiligen Divisionen eigenverantwortlich identifiziert, zentral in Vorschriften kodifiziert: „Während des Kampfes gingen die Soldaten nicht mehr in Massen, sondern in Kampfgruppen vor“, welche selbständig in der Lage sein mussten, ihren Auftrag unter Ausnutzung des Geländes zu erfüllen (205f).

Diese Bedeutung des Geländes für die Kriegführung rückte die Landschaft fast zwangsläufig in den Blick der Soldaten. Sie bildete ihr alltägliches Lebensumfeld und ihre Wahrnehmung verband sich wiederum „mit […] voneinander abweichende[n] Deutungen des Krieges“ (352). Nübel identifiziert hier „vier unterschiedliche Modi der Landschaftswahrnehmung“ (352f): als Naturlandschaft, mythische Landschaft, Kulturlandschaft und Kriegslandschaft. Vor allem letztere stellte aus seiner Sicht ein völlig neuartiges Gebilde dar, welches die Soldaten zu erfassen suchten. Auf diese Weise avancierten „[d]ie Räume der Kriegstheater […] durch den Einsatz zu Erinnerungsräumen, in denen die Kriegserfahrungen verortet wurden“ (354). Auch die militärische Führung antizipierte diese Feststellung: In den Feldzeitungen erschienen zunehmend „Artikel, die den Blick der Soldaten auf die schönen Seiten ihrer Umgebung lenkten. Vor allem die unberührten Heimatlandschaften sollten die Soldaten zum Durchhalten und Weiterkämpfen motivieren“ (Ebd.).

In seiner „Schlussbetrachtung“ fokussiert Nübel seinen Ansatz und fasst seine Ergebnisse zusammen. Für ihn sind hierbei zwei Erkenntnisse grundlegend: Zum einen, „dass sich Kriegserfahrungen zwischen Repräsentationen und Materialität des Krieges konstruieren“, zum anderen, dass „die Offenheit und Vielgestaltigkeit des Raumes […] dazu [zwingt], Raum zu konkretisieren und zu operationalisieren“ (356). Im Falle der Westfront kommt der Autor dadurch zur Einsicht, wie wenig sie das monolithische Gebilde gewesen sei, als das sie gern wahrgenommen würde. Im Gegenteil unterschieden sich die Einsatzgebiete mitunter stark, was einerseits von den Soldaten individuell wahrgenommen worden wäre, andererseits erheblichen Einfluss auf die Kriegführung ausgeübt habe. Gleichwohl zeige sich in den drei Raumschichten Umwelt, Gelände und Landschaft die Komplexität der fremden Welt des Krieges: „Von der Umwelt hingen die Existenzbedingungen der Betroffenen ab, im Einsatz galt ihr militärischer Blick dem Gelände, während sie ihre Erlebnisse und persönliche Lage im Spiegel der Landschaften deuteten“ (358). Dass  „Spaten und Sprengstoff“ mitunter in kürzester Zeit das Aussehen des Landes [veränderten]“ (361), verlieh den von Kampfhandlungen betroffenen Gebieten darüber hinaus „neue räumliche Strukturen“, in denen „Stellungen eine Grenze [bildeten]“ und das Areal nur mehr „mit den Vektoren vorne-hinten oder links-rechts“ zu beschreiben gewesen sei (362). Dadurch sei es für die einzelnen Soldaten geradezu überlebenswichtig geworden, „über die räumliche Gestalt ihrer Frontabschnitte im Bilde [zu] sein“ (Ebd.). Solche „stetigen Veränderungen innerhalb der Frontzone […] in immer kürzeren Zeiträumen“ zwangen die Soldaten zu einer beschleunigten Anpassung und „verlangte[n] nach einer umfassenderen Bildung und Ausbildung“ (368) – eine Entwicklung, die sich nach Nübel bis in die heutigen Einsätze fortsetze.

Deswegen beschließt der Autor seine Arbeit mit „einer knappen, hypothetischen Skizze“ über „Raumbilder und Soldatenbilder“ (369-375), in denen er die untersuchten Themenstränge in der Nachkriegszeit weiterverfolgt und daraus Thesen und Fragen entwickelt, „mit denen sich die noch immer unzureichend beleuchteten Nachwirkungen soldatischer Kriegserfahrungen und die Vorstellungen und Repräsentationen der Westfront weiterführend diskutieren lassen“ (369). Ausgehend von einschlägigen Publikationen, die noch während der Endphase des Krieges entstanden waren, verfolgt Nübel holzschnittartig die publizistischen Leitlinien entlang der soziokulturellen Grenzen in der deutschen Kriegsfolgengesellschaft. Besonders die bürgerlich-konservativen, vor allen Dingen aber die nationalistischen Kriegsdeutungen zeichneten das Bild von den „Überlebenden, die zum Künder einer Wahrheit über den Krieg wurden und deren Wissen über die Gestaltung der Zukunft eine Rolle spielte“ (372), - eine Interpretation, die nicht zuletzt von den Veteranen selbst geprägt worden ist. Gerade Publikationen aus den rechtsnationalen und konservativen Milieus stilisierten dabei diese „zu Trägern sozialer, politischer und kultureller Zukunftsentwürfe“ (373), eben weil sie sich an der Front in einer lebensfeindlichen Zone durchgesetzt hätten.

Im Gegensatz dazu, so arbeitet der Verfasser heraus, fokussierten die Publikationen aus dem linken oder republikanischen Spektrum die Leiden der Menschen und die Zerstörungen durch den Krieg. Derselbe Kriegsraum hatte hier Mensch und Natur gleichermaßen „geschändet und ihrer Würde beraubt“ (374), gebrochene oder versehrte Individuen hervorgebracht. Dass sich die heroisierten Einschreibungen dagegen durchsetzten, erklärt Nübel mit dem Versuch einer Sinngebung des verlorenen Krieges durch die Veteranen. Er empfiehlt dazu abschließend weitergehende Untersuchungen, welche der Frage nachgingen, „ob die kritische Betrachtung des Ersten Weltkrieges durch Linke und Republikaner und ihr Anrennen gegen die apologetischen Kriegserzählungen nicht jenes wirksame Zukunftsversprechen vermissen ließ, das die Rechte machte und das sie aus den Repräsentationen der Soldaten und der Westfront heraus entwickelten“ (375).

Im Ergebnis hat Christoph Nübel eine umfangreiche Arbeit vorgelegt, die nahezu alle greifbaren Fragen und Diskussionsansätze zu seinem Thema mal mehr, mal weniger tiefgehend verfolgt. Dazu hat er so ziemlich alles an Literatur und Quellen ausgewertet, was man zu dieser Forschung zusammentragen kann. Darin liegt die große Stärke der Dissertation, die in dieser Hinsicht fast als Kompendium dienen kann. Wer sich mit der Bedeutung der Frage des historischen Raumes im Allgemeinen und in Bezug auf die Westfront des Ersten Weltkrieges im Besonderen auseinandersetzen mag, dem oder der sei Nübels Arbeit wärmstens empfohlen. Wer sich allerdings konkrete Antworten erhofft – und hier liegt das Manko des Buches -, dem macht es der Verfasser nicht einfach, weil er auf eine dezidierte Leitfrage verzichtet hat. Dies zwingt zur genauen und aufmerksamen Lektüre ebenso wie zu eigener analytischer Leistung; kein leichtes Unterfangen also, aber ein spannendes und lehrreiches.

 

Christoph Nübel, Durchhalten und Überleben. Raum und Körper im Ersten Weltkrieg, Paderborn 2014 (=Zeitalter der Weltkriege, 10), Verlag Ferdinand Schoeningh, 484 Seiten, ISBN 978-3-506-78083-6, € 44,90.

 

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