IX. Teil: Krieg in der Ukraine – Die nordosteuropäische Dimension
Jannes Bergmann/Paul Fröhlich
Interview
Veröffentlicht am: 
20. Juli 2022

Die Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine sind weit über die Grenzen hinaus in ganz Europa spürbar. Die durch den Krieg motivierten Anträge Schwedens und Finnlands für den Beitritt zur NATO bedeuten einen entscheidenden Kurswechsel in der Politik der beiden nordischen Länder und werden für die europäische Sicherheitspolitik im Ostseeraum und den baltischen Staaten langfristige Folgen haben. Der neunte Teil der Themenreihe „Krieg in der Ukraine“ dreht sich um die Auswirkungen des Krieges in Nordosteuropa und die besonderen historischen Vorbedingungen, die diesen Raum und die Politik der dortigen Staaten geprägt haben. Dazu befragen wir Prof. Dr. Ralph Tuchtenhagen, der als Professor für Skandinavistik/Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrt und zur gemeinsamen Geschichte der nordeuropäischen Länder, des Baltikums sowie des nördlichen Russlands seit der frühen Neuzeit forscht.  

 

Herr Tuchtenhagen, Sie sind Historiker und Kulturwissenschaftler und haben sich in Ihrer wissenschaftlichen Laufbahn in verschiedenen Funktionen neben den skandinavischen Ländern auch mit Finnland, dem Baltikum und Russland beschäftigt. Wie war ihre Reaktion auf den Kriegsbeginn am 24. Februar und hätten Sie damals schon so weitreichende Folgen für den Norden für möglich gehalten?

Der Kriegsbeginn war für mich keine Überraschung. Es handelte sich dabei um eine der Optionen der russischen Außenpolitik, die vor dem 24. Februar im Raum standen. Der wochenlange Aufmarsch russischer Truppen im russisch-ukrainischen Grenzraum, erstaunlich schlecht getarnt als „Manöver“, konnte bedeuten, dass Putin – wie z.B. später Recep Erdoğan im Falle des NATO-Beitritts Finnlands und Schwedens – den Preis für Verhandlungen mit dem Westen hochtreiben wollte; oder dass er – in bester Tradition des Afghanistankrieges (1979–1989), der Tschetschenienkriege (1994–1996, 1999–2009), des Georgienkrieges (2008) oder des Syrienkrieges (seit 2015) – versuchen würde, sein selbst proklamiertes Allzeitziel, die Wiederherstellung des Russischen Imperiums, mit Hilfe eines Überfalls auf die Ukraine in die Tat umzusetzen. Natürlich habe ich im Januar und Februar gehofft, dass es Putin um die erste Option ginge und der Ukraine ein Krieg erspart bliebe.

Als es jedoch anders kam, war von Anfang an klar, dass es auch für die an Russland grenzenden Staaten gefährlich werden könnte. Schon die Sowjetunion hat in den Zeiten des Kalten Krieges versucht, durch Grenzverletzungen, illegale U-Boot-Aktivitäten in fremden Hoheitsgewässern, Agententätigkeit und Neutralitätsforderungen für Finnland und Deutschland den Ostseeraum und sein westliches Vorfeld im Nordatlantik zu kontrollieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging diese subversive „Sicherheitspolitik“ weiter. Denn obwohl das russische Regierungsregime 1991 wechselte, obwohl andere ideologische Maximen ausgegeben wurden, herrschte in der russischen Außen- und Sicherheitskonzeption auch nach 1991 große Kontinuität. Sie lässt sich in einzelnen Aspekten sogar mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Dazu gehört im Ostseeraum und Nordeuropa insbesondere: eine territoriale Schutzzone für Leningrad/St. Petersburg, eine Garantie, dass sich die russische Baltische Flotte und die Nordflotte in Ostseeraum, Barentssee und Nordatlantik möglichst frei bewegen können, dass vor allem Finnland und Schweden als neben Russland einflussreichste Staaten des Ostseeraums außenpolitisch neutral bleiben, dass die NATO im Nordosten auf Distanz gehalten wird, d.h. dass östlich von Deutschland keine NATO-Truppen und oder Atomwaffen stationiert werden, keine für die NATO zugänglichen Flugbasen oder Häfen existieren u.v.a.m. In Finnland, Norwegen, Polen und den baltischen Staaten kannte man diese Strategie seit Langem sehr genau. In Deutschland, Frankreich oder Großbritannien musste man sie sich nach dem 24. Februar erst wieder schmerzhaft in Erinnerung rufen.

Der Krieg in der Ukraine wird gern mit dem Angriff der Sowjetunion auf Finnland im Winterkrieg 1939/40, in dem Finnland erbitterten Widerstand leistete und die Rote Armee lange Zeit abwehren konnte, verglichen. Dabei wird auf verschiedene Parallelen wie die mangelhafte Planung, die überraschenden Erfolge eines kleinen Landes gegen einen übermächtigen Gegner und die relativ hohen Verluste auf russischer Seite Bezug genommen. Wie berechtigt ist dieser Vergleich und welche Rolle spielt der Kampf gegen die Sowjetunion in der finnischen Erinnerungskultur, auch im Hinblick auf dessen Verhältnis zum heutigen Russland?

Beim Winterkrieg handelte es sich um den Verteidigungskrieg eines seit gerade einmal 20 Jahren souveränen Landes gegen einen der großen Verlierer des Ersten Weltkrieges. Gleichzeitig war er aus sowjetischer Sicht ein Versuch, die territorialen Verluste Russlands nach dem Ersten Weltkrieg mit Hilfe eines Teufelspaktes (Hitler-Stalin-Pakt 1939) wieder wettzumachen und sich unter Stalin zu alter imperialer Größe aufzuschwingen. Unter diesem mächtepolitischen Aspekt hat ein Vergleich mit dem Krieg gegen die Ukraine, die ihrerseits seit rund 30 Jahren als souveräner Staat existiert, einiges für sich. Auch die Tatsache, dass Russland in beiden Fällen aus einer Position außenpolitischer Schwäche und einer krassen Fehleinschätzung seiner Nachbarstaaten handelte – bei gleichzeitigen martialischen Drohgebärden und verbalem Getöse – verleitet zu direkten Vergleichen.

Dennoch waren die innenpolitischen Voraussetzungen in Finnland und in der Ukraine hinsichtlich ihrer Verteidigungsfähigkeit unterschiedlich. Finnland hatte sich nach einem blutigen Bürgerkrieg (1918–1920) zu einem stabilen demokratischen Staat entwickelt. Es konnte auf eine starke Nationalbewegung aus dem 19. Jahrhundert zurückblicken, besaß ein stabiles, an westlichen, insbesondere skandinavischen Modellen orientiertes Regierungssystem, Korruption und Selbstbereicherung waren so gut wie unbekannt und das Land erfreute sich in den 1920er und 1930er Jahren einer gewissen wirtschaftlichen Prosperität. Es gab in Finnland darüber hinaus keine von einer russischen Minderheit bewohnte Grenzregion, deren Zugehörigkeit zu Finnland in Frage gestellt wurde. In der Ostukraine wurde genau diese Problematik zum Einfallstor der russischen Expansionspolitik, die auf das geschichtspolitische Argument verwies, die Ukraine habe „immer schon“ zu Russland gehört (eine Behauptung, die im finnischen Fall lächerlich gewesen wäre). Daran ist so viel wahr als es sich bei der Ukraine um einen Staat handelt, der sich seit 1991 aus Territorien zusammensetzt, die nach dem Zerfall des Kiever Reiches im 14. Jahrhundert teils unter litauische, teils unter osmanische, teils unter russische Herrschaft gelangt war. Eine kurzlebige Eigenstaatlichkeit im 17. Jahrhundert hatte diese Tatsache so lange nicht ändern können, bis im Zuge der russisch-osmanischen Kriege und der polnisch-litauischen Teilungen im 18. Jahrhundert die Oberherrschaft über „Kleinrussland“ (Ukraine) ganz an die Zaren überging.

Der russische imperiale Einfluss in der Ukraine lässt sich also über viele Jahrhunderte zurückverfolgen. Er ist es auch, der in Putins Russland zu der Annahme geführt hat, dass die heutige ukrainische Bevölkerung mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht viel gegen eine russische Intervention unternehmen würde und nur die seit 2014 nach Westen hin orientierte ukrainische Regierung zu beseitigen sei. Schon die ersten Tage nach dem 24. Februar haben jedoch gezeigt, dass sich Moskau hier gewaltig geirrt hat und dass sich spätestens mit der Maidan-Revolution von 2014 ein ukrainisches Eigenbewusstsein ausgebildet hatte, das nun ähnlich wie in Finnland nach dem Ersten Weltkrieg die wichtigste Voraussetzung für einen zähen Abwehrkampf gegen einen mächtigen Kriegsgegner bildete. In Finnland kam hinzu, dass dieses Eigenbewusstsein mit dem Bewusstsein einer jahrhundertelangen Zugehörigkeit zur westkirchlichen Kultur, zu den Werten der Reformation, der Aufklärung und Demokratisierung gepaart war; und dass diese Werte mit höchstmöglichem Einsatz und großer Opferbereitschaft verteidigt werden sollten. Es war im Zweiten Weltkrieg dieses Zugehörigkeitsgefühl zum Westen gewesen, auf das prekärerweise Nazi-Deutschland bauen konnte, als es die deutsch-finnische „Waffenbrüderschaft“ im „Fortsetzungskrieg“ (1941–1944) als Kampf gegen „Bolschewismus“ und „asiatische Barbarei“ propagierte. Der „Fortsetzungskrieg“ konnte von der Sowjetunion wiederum nur gewonnen werden, weil die eigentlich ebenfalls antibolschewistisch eingestellten USA die Sowjetunion massiv mit Kriegsmaterial belieferten, um den Hauptfeind Deutschland niederringen zu können.

Dies ist heute im Falle des Ukrainekrieges anders. Der Westen liefert Kriegsmaterial an die Ukraine, nicht an Russland, und es geht auch nicht darum, einen dritten Feind zu besiegen, sondern um die Beendigung eines russischen Eroberungskrieges. Dieser Unterschied in den internationalen Koalitionen und Unterstützungsstrategien könnte dazu führen, dass der Ukrainekrieg sich noch lange hinzieht – so lange nämlich, bis die russischen militärischen und finanziellen Ressourcen erschöpft sind bzw. die Ukraine mit Hilfe westlicher Waffenlieferungen und finanzieller Unterstützung in der Lage sein wird, Russlands derzeitige Überlegenheit zu beenden. Schon jetzt dauert der Ukrainekrieg (5 Monate) wesentlich länger als der Winterkrieg (3 ½ Monate). Die Hilfe der Westmächte und Skandinaviens für Finnland lief 1939/40 nur langsam an und kam am Ende zu spät. Im Fall der Ukraine hat man sofort reagiert. Eine Niederlage Russlands ist nicht völlig ausgeschlossen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschied sich Finnland trotz seiner Kriegserfahrungen und der direkten Nachbarschaft zu Russland für die Neutralität. Wie kam es zu dieser Entscheidung und wie prägte dies die finnisch-russischen Beziehungen in der Folgezeit?

Diese Entscheidung traf Finnland natürlich nicht freiwillig. Sie war vielmehr erzwungen durch einen für Finnland aussichtslos gewordenen Kampf gegen die Sowjetunion nach der deutschen Niederlage bei Stalingrad (Januar/Februar 1943) und einer Großoffensive der Roten Armee gegen Finnland (Juni 1944). Die schmerzhaften Erfahrungen des Lapplandkrieges (September 1944 bis April 1945) und einschneidende Territorialverluste, die aus dem finnisch-sowjetischen Friedensvertrag (FZB-Vertrag,[1] 6.4.1948) hervorgingen, kombiniert mit der in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre rasant anwachsenden Macht des östlichen Nachbarn, ließen es weder ratsam erscheinen, noch ließ es der FZB-Vertrag zu, sich für ein bestimmtes Bündnis zu entscheiden. Die Sicherheits- und Außenpolitik der folgenden Jahrzehnte war das direkte Ergebnis der Politik der 1940er Jahre. Die sogenannte Paasikivi-Kekkonen-Linie stand dabei für höchstmögliche innenpolitische Autonomie bei gleichzeitiger Vermeidung von Konflikten mit der Sowjetunion und unauffälliger Zusammenarbeit mit dem Westen.

Auf die Frage, warum Stalin die Gunst der Stunde Ende der 1940er Jahre nicht genutzt und Finnland wie viele andere Länder in seiner Nachbarschaft in einen Satellitenstaat verwandelt hat, gibt es bis heute keine befriedigende Antwort. Aufschluss könnten Dokumente aus russischen Archiven geben. Sie sind aber, soweit sie überhaupt existieren, bisher unzureichend ausgewertet. Teilweise sind sie gar nicht zugänglich. Möglicherweise ist auch wichtiges Material verlorengegangen oder bewusst vernichtet worden. Angesichts der vergleichsweise gemäßigten Reaktion der russischen Führung gegenüber Finnlands und Schwedens Antrag auf NATO-Mitgliedschaft am 18. Mai 2022 wird man vielleicht dem Argument etwas abgewinnen können, dass Finnland schon 1944/45 nicht im Fokus der geostrategischen und wirtschaftsgeographischen Interessen der Sowjetunion stand und dass die Beherrschung Ostmitteleuropas wichtiger schien als diejenige des europäischen Nordostens.

Auch Schweden hat sich durch die Waffenlieferungen an die Ukraine bereits von seiner neutralen Position entfernt und gibt diese mit seinem Beitrittsantrag nun vollständig auf, obwohl die Neutralität dort eine lange Tradition hat. Bereits seit dem Ende der Napoleonischen Kriege hält das Land an diesem Kurs fest, es wird von einer Zäsur in der schwedischen Geschichte gesprochen. Welche Bedeutung hat diese Neuausrichtung für Staat, Gesellschaft und das schwedische Selbstverständnis, auch im Hinblick auf die Beziehungen zum restlichen Europa?

Schweden hat sich bei der Entscheidung für einen NATO-Beitritt tatsächlich schwerer getan als Finnland. Manche Beobachter sprechen sogar davon, dass die schwedische Regierung von der finnischen zu diesem Schritt getrieben worden sei, weil Schweden in der bedrohlichen internationalen Lage des Ostseeraumes nicht isoliert dastehen wollte. Man könnte nun darauf verweisen, dass dies ja während des Zweiten Weltkrieges durchaus der Fall gewesen sei. Diesem Argument entgegen steht allerdings, dass es während des Zweiten Weltkrieges noch keine ferngelenkten Atomwaffen gab, die heutzutage mühelos von der Enklave Kaliningrad, aber auch von anderen russischen Stützpunkten aus auf schwedisches Territorium abgefeuert werden können.

Neutralität hat so gesehen immer auch etwas mit der Einschätzung der Bedrohungslage zu tun. Vor 80 Jahren existierte in Schweden zwar auch die Furcht, dass Deutschland Schweden ähnlich wie Dänemark und Norwegen besetzen oder zu einem Bündnis gegen die Sowjetunion zwingen könnte. Dennoch vertraute man auf die seit dem Westfälischen Frieden 1648 traditionell meist guten Beziehungen zu Deutschland. Im Falle Russlands ist das Bewusstsein in Schweden jedoch ein anderes. Bis ins 16. Jahrhundert lässt sich ein Misstrauen Schwedens gegenüber Russland zurückverfolgen, das seinen Grund in den zahlreichen Kriegen zwischen den beiden Ländern während der frühen Neuzeit hat, aber auch in konfessionellen und kulturellen Unterschieden. Es ist richtig, dass sich das schwedisch-russische Verhältnis seit den Napoleonischen Kriegen etwas entspannt hat. Dennoch gab es immer wieder kritische Situationen – etwa während des Krimkrieges (1853–1856), des Ålandkrieges (1918–1921) oder auch des Winterkrieges, als im Schwedischen Reichstag durchaus ernsthaft darüber debattiert wurde, ob Schweden nicht gegen Russland intervenieren solle. Eine offizielle militärische oder diplomatische Unterstützung Schwedens für Russland hat es nach 1815 nie gegeben.

Was die Zukunft anbelangt, glaube ich nicht, dass sich Schweden nach einem NATO-Beitritt in ein Land verwandelt, das eine offen aggressive Politik gegenüber Russland betreibt. Vielmehr wird man die NATO in Schweden zwar als wichtigen zusätzlichen Baustein in der schwedischen Sicherheitsarchitektur betrachten, sich aber gleichzeitig bemühen, Russland keinen Anlass zu bieten, sich in schwedische Angelegenheiten einzumischen. Man wird seine NATO-Pflichten erfüllen, mehr aber auch nicht. Und sowohl in Finnland wie auch in Schweden hat man im Vorfeld der NATO-Beitrittsgesuche auch Alternativen diskutiert, etwa die Wiederbelebung einer 1947 gescheiterten Skandinavischen Verteidigungsallianz (s.u.).

In den russisch-schwedischen Beziehungen kam es trotz der Blockfreiheit Schwedens bereits während des Kalten Krieges regelmäßig zu Konflikten. Inwieweit haben die vermuteten oder tatsächlichen Verletzungen der Neutralität Schwedens durch russische Marineeinheiten – zuletzt im Herbst 2014 – einen Einfluss auf die aktuelle öffentliche Meinung?

Inwiefern speziell die seehoheitlichen Rechtsverletzungen eine Rolle für die öffentliche Meinung gespielt haben, wäre zu untersuchen. Klar ist, dass jede Provokation von russischer Seite immer nur Schwedens traditionelles Bild von Russland bestätigt und verstärkt: dass nämlich Russland ein aggressiver Nachbar sei, dem nicht zu trauen ist und der auch in Zukunft immer wieder skrupellos territoriale Verletzungen als selbstverständlichen Teil seiner Politik gegenüber Schweden und anderen Ländern in Kauf nimmt. Heute, wo der ständig schwelende kalte Miniaturkrieg zwischen Russland und Schweden zu einem heißen Krieg werden könnte, hat sich die öffentliche Meinung in Schweden entscheidend gewandelt. Nicht nur der größte Teil der Regierung, sondern auch eine Mehrheit der Bevölkerung ist inzwischen für einen NATO-Beitritt Schwedens.

Durch den Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO gäbe es in Europa allerdings auch zwei neutrale Länder weniger, die als Vermittler zwischen den beiden Machtblöcken NATO und Russland wirken könnten. Wie wichtig war diese Funktion bisher, v.a. in der Zeit des Kalten Krieges?

Diese Funktion war von enormer Bedeutung. Gerade durch die räumliche Nähe zu Russland und durch die Tatsache, dass Finnland und Schweden unmittelbar in die russischen Sicherheitsinteressen im Ostseeraum involviert waren, kam den beiden Ländern eine Schlüsselposition zu – viel deutlicher als etwa der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg oder Österreich. Insbesondere die Rolle Finnlands im Kontext der Entspannungspolitik der 1970er Jahre („Helsinki-Prozess“, KSZE, OSZE) und deren bis heute anhaltenden Folgewirkungen, aber auch der Einsatz Schwedens für eine humanitäre Friedenspolitik sind hier zu nennen. Diese Stellung im internationalen Machtspiel hatte allerdings auch Nachteile: Helsinki und Stockholm entwickelten sich während des Kalten Krieges zu Zentren der internationalen Diplomatie und wurden, wie immer in solchen Fällen, zu einem Drehkreuz für sowjetische und westliche Geheimdienste.

Auch eine andere Facette der Neutralitätspolitik wäre hier ebenfalls zu nennen. Neutralität bedeutet in militärischer Hinsicht, dass ein neutrales Land seine Neutralität militärisch verteidigen können muss. Praktisch hatte dies in Finnland und Schweden zur Folge, dass beide Länder moderne Waffensysteme besaßen, starke Armeen unterhielten und deshalb aus Sicht der NATO-Mitgliedsstaaten höchst willkommen waren, als sie sich nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges in Richtung einer NATO-Mitgliedschaft bewegten. Diese angestrebte NATO-Mitgliedschaft ist auch auf dem Hintergrund zu interpretieren, dass Finnland und Schweden sehen konnten, dass ein neutrales Land wie die Ukraine (1990–2014) vor Einmischungen und Überfällen Russlands nicht gewappnet war. Die NATO-Beitrittsanträge sind nach dem EU-Beitritt Finnlands und Schwedens im Jahre 1995 ein weiterer Schritt weg von einer strikten Neutralitätspolitik.

Mit Jens Stoltenberg hat die NATO seit 2014 einen Norweger als Generalsekretär. Bereits 1949 hatte man in Norwegen mit der strikten Neutralitätspolitik gebrochen und war dem Nordatlantikbündnis beigetreten. Der Grund für diese Entscheidung war die Annahme, dass man sich durch die eigene exponierte Lage dem Ost-West-Konflikt nicht würde entziehen können. Wie kam es zu dieser differierenden norwegischen Entwicklung – gerade vor dem Hintergrund der nun 70 Jahre später erklärten Beitrittsabsichten Schwedens und Finnlands?

Im Gegensatz zu Schweden hatte Norwegen – wie auch Dänemark – im Zweiten Weltkrieg erleben müssen, dass Neutralitätserklärungen nicht vor brutalen Angriffskriegen schützten. 1940 überfiel Nazi-Deutschland beide Länder in der bis dahin größten amphibischen Operation des Zweiten Weltkrieges und hielt sie bis zur deutschen Kapitulation im Mai 1945 besetzt. Das Gleiche widerfuhr Finnland von Seiten der Sowjetunion. Doch wie schon gezeigt, gelang es Finnland über längere Perioden des Krieges, sich dem russischen Zugriff zu verweigern. Für Norwegen und Dänemark nun gab es nach dem Zweiten Weltkrieg drei Optionen, ihre Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten: 1. Neutralität, 2. ein nordeuropäisches Militärbündnis, 3. die NATO, die von den Gründerstaaten damals vor allem als militärischer Schutzschirm der UNO aufgefasst wurde. Die erste Option kam mit den zunehmenden Ost-West-Spannungen nach dem Zweiten Weltkrieg, die zum Kalten Krieg führten, nicht in Frage. Für Norwegen, das nach dem Lapplandkrieg (1944–1945) und Finnlands Verlust des Petsamo-Gebietes zum direkten Nachbarn der Sowjetunion geworden war, war die Aussicht, in Zukunft dasselbe Schicksal erleiden zu müssen wie Finnland („Finnlandisierung“), inakzeptabel. Den Vorschlag der Sowjetunion über den Abschluss eines sowjetisch-norwegischen Vertrags ähnlich dem sowjetisch-finnischen Friedensvertrag von 1948 (FZB-Vertrag), lehnte Norwegen ab. Die zweite Option, die Bildung einer außenpolitisch neutralen skandinavischen Verteidigungsallianz, scheiterte 1948 an den unterschiedlichen außen- und sicherheitspolitischen Bedürfnissen Norwegens und Schwedens. Es blieb die dritte Option, eine nordatlantische Verteidigungsallianz (NATO), deren Gründung im Gleichschritt mit dem sich entwickelnden Kalten Krieg von den Westalliierten und ihren Verbündeten initiiert worden war und durch deren Unterstützung sich Norwegen wie auch Dänemark und Island 1949 Schutz vor der sowjetischen Bedrohung erhofften.

Insbesondere die baltischen Staaten, die sich in der Vergangenheit bereits mehrere Male durch Russland bedroht fühlten, begrüßen den Beitritt der beiden Länder zur NATO, weil die Ostsee quasi zu einem Binnenmeer des Bündnisses werden und die Verteidigung dieser Region erheblich erleichtert würde. Welche Rolle spielt dieser Raum in der russischen Geschichte und wie beeinflusst dies die strategischen Interessen in der Region bis heute?

Man hat in den Zeiten des Kalten Krieges gerne von Russlands historischem „Drang zum Meer“ gesprochen. Daran ist soviel wahr, als das Großfürstentum Moskau, das 1478 die Stadtrepublik Novgorod annektiert und damit den Zugang zur Ostsee erreicht hatte, durch den schwedisch-russischen Friedensvertrag von Stolbovo (1617) wieder von der Ostsee abgeschnitten wurde. Die Rückeroberung von Küstengebieten an der Ostsee sollte sich danach gut ein Jahrhundert lang hinziehen. Mit der Niederlage Schwedens im Großen Nordischen Krieg (1700–1721) unter Peter I. („dem Großen“) gelangte Russland in den Besitz der bis dahin unter schwedischer Oberhoheit stehenden Karelischen Landenge und der schwedischen Ostseeprovinzen Estland und Livland. Peters Fernziel jedoch, eine Beherrschung des gesamten Ostseeraumes, schoben die an einem freien Ostseehandel interessierten Niederlande und England über weite Strecken des 18. Jahrhundert einen Riegel vor. Erst nach den Teilungen Polen-Litauens gelangte Russland in den Besitz weiterer Gebiete an der Ostsee (Kurland, nördliches Litauen).

Der größte Teil dieser Eroberungen ging jedoch mit dem Ende des Ersten Weltkrieges wieder verloren. Sowjetrussland behielt zwar mit Leningrad und Umland einen Küstenabschnitt an der Ostsee, sah sich aber gezwungen, die ehemalige Hauptstadt des Russländischen Reiches tief ins Binnenland hinein nach Moskau zu verlegen, weil Leningrad sicherheitspolitisch als zu exponiert erschien. Der Schutz Leningrads – weniger vor einem Angriff der jungen Staaten Finnland, Estland und Lettland als dem möglichen Versuch Deutschlands, diese Staaten als Brückenköpfe zu nutzen – blieb ein sowjetisches außenpolitisches Thema bis zum Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes im Jahre 1939. Mit dem militärischen Erstarken NS-Deutschlands und der Sowjetunion in den 1930er Jahren erhöhten sich auch die Spannungen in der Ostseeregion. Finnland und die baltischen Staaten sanken aus deutscher und sowjetischer Sicht zur territorialen Verhandlungsmasse herab. Das geheime Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Paktes formulierte die Aufteilung dieser Länder zwischen Deutschland und der Sowjetunion mit erschreckender politischer Nüchternheit und Kälte. Der Winterkrieg 1939–1940, die sowjetische Besetzung Estlands und Lettlands 1940–1941, die Besetzung des Baltikums durch deutsche Truppen 1941–1944, die Rückeroberung und Sowjetisierung der baltischen Staaten seit 1944, der FZB-Vertrag mit Finnland und die Sowjetisierung Polens und Ostdeutschlands machten zwar nicht den ganzen Ostseeraum zu einem „roten Binnenmeer“, wie die westliche Propagandaliteratur dies während des Kalten Krieges gern behauptete, aber immerhin unterlag bis 1990 fast die gesamte südliche Ostseeküste der Kontrolle der im Rahmen des Warschauer Paktes kooperierenden sowjetischen Baltischen Flotte, der Marine der Volksrepublik Polen und der DDR-Volksmarine.

Nach 1991, als die Baltische Flotte wieder auf einen engen Radius im Finnischen Meerbusen und vor der Küste des Kaliningrader Gebiets sowie auf das Durchfahrtsrecht abseits der Hoheitsgewässer der anderen Ostseeanrainerstaaten reduziert war, musste sich Russland mit Provokationen wie Luftraumverletzungen, Spionage, der illegalen Befahrung von Küstenmeeren und diplomatischen Machinationen behelfen. Nach dem Ausbruch des Ukrainekrieges drohten diese Sticheleien aus Sicht der Ostseeanrainerstaaten jedoch in handfeste außenpolitische, womöglich bewaffnete Konflikte zu entarten. Die Antwort darauf waren eine Verstärkung der NATO-Präsenz in den baltischen Staaten und Polen, die Verlegung von Truppen und Kriegsmaterial in die Grenzregionen zu Russland und das NATO-Beitrittsgesuch Finnlands und Schwedens. Auch das herausragende Engagement Polens bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge und bei der Belieferung der Ukraine mit schweren Waffen, die von Russland u.a. mit einem Gas-Embargo gegenüber Polen beantwortet wurden, gehören in diesen Kontext.

Sowohl in Finnland als auch in den baltischen Staaten existieren zum Teil große russische Minderheiten. Befürchten Sie angesichts der aktuellen Entwicklung weiter zunehmende Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen und welche Möglichkeiten der Entspannung sehen Sie?

Es stimmt, dass es in den baltischen Staaten einen beträchtlichen Anteil russischsprachiger Bevölkerung gibt, der ein Ergebnis vor allem des von Moskau erzwungenen Bevölkerungsaustausches nach dem Zweiten Weltkrieg ist. Missliebige baltische Politiker, Intellektuelle und Oppositionelle aller Art wurden ins Innere der Sowjetunion deportiert. Im Gegenzug siedelte Moskau im Rahmen einer forcierten Industrialisierung des Baltikums Arbeiter und anderes Industriepersonal aus allen Teilen der Sowjetunion in Estland, Lettland und Litauen an. Nicht alle jedoch, die im Baltikum heute Russisch sprechen, fühlen sich als Teil Russlands. Viele haben in der dritten und vierten Generation inzwischen im Baltikum eine Heimat gefunden. Nur die allerwenigsten können sich vorstellen, in der Russischen Föderation zu leben. Noch seltener finden sich Unterstützer für Putins aggressive Expansionspolitik. Vielmehr ist in den baltischen Staaten nach 1990 in der russischsprachigen Bevölkerung das Bewusstsein gewachsen, dass es unter politischen wie unter wirtschaftlichen Aspekten angenehmer ist, in Estland, Lettland oder Litauen zu leben – selbst mit einem offiziellen Status als „Staatenlose“, sofern man nicht bereit ist, sich der jeweiligen Einbürgerungsprozedur des Landes zu unterziehen.

In Finnland wiederum ist die russische Minderheit sehr klein. Schon in der Zeit des Großfürstentums Finnland (1809–1917), als Finnland Teil des Russländischen Kaiserreiches war, fanden nur wenige Russen den Weg nach Finnland – entweder als Kaufleute oder Repräsentanten der zarischen Zentralregierung in den größeren Städten oder als Sommerfrischler auf der karelischen Landenge. Nach dem Bürgerkrieg, der ja auch ein Krieg gegen das „rote“ Russland gewesen war, spielten Russen in Finnland dann so gut wie keine Rolle mehr. Erst nach dem Ende des Kalten Krieges tauchten in Finnland wieder vermehrt Russen auf – oft in Form von „Oligarchen“, zwielichtigen Geschäftsleuten oder Rüpel-Touristen, mit denen man in Finnland eigentlich nicht so viel zu tun haben wollte. Weder im Baltikum noch in Finnland sind derzeit nennenswerte Spannungen zwischen der russischsprachigen und der jeweiligen ethnischen Mehrheitsbevölkerung zu beobachten. Im Gegenteil: Hin und wieder melden sich sogar russischsprachige Männer und Frauen, um sich gegen eventuelle russische Übergriffe zu wappnen und „ihren“ Staat gegen Putin zu verteidigen.          

 

Zitierempfehlung: Jannes Bergmann/Paul Fröhlich, Interview mit Prof. Dr. Ralph Tuchtenhagen. Die nordosteuropäische Dimension, in: Themenschwerpunkt „Krieg in der Ukraine. Militär- und gewaltgeschichtliche Hintergründe“, hg. von Jannes Bergmann/Paul Fröhlich/Gundula Gahlen, Portal Militärgeschichte, 20. Juli 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/bergmann_froehlich_interview_tuchtenhagen (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).