Militärische Operationen im urbanen Raum in Zeiten von Humanisierung und Post-Heroismus
Jonas Neugebauer
Projektskizze
Veröffentlicht am: 
23. Mai 2022

Der Bankräuber Willie Sutton trieb um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA sein Unwesen und erbeutete mutmaßlich über zwei Millionen US-Dollar in Überfällen. Auf die Frage warum er denn ausgerechnet Banken überfalle, soll Sutton stets mit derselben, offensichtlichen Antwort reagiert haben: „Because that‘s where the money is.“1 Dieser Leitsatz fand schnell seinen Weg in die Wissenschaft und das Suttonsche Gesetz, das besagt, zuallererst die offensichtlichsten und damit wahrscheinlichsten Lösungen in Betracht zu ziehen, gilt bis heute als Grundsatz in der medizinischen Diagnostik.

Auch die Frage nach den Kriegsschauplätzen und Konfliktherden der Zukunft wird von einigen Wissenschaftler*innen und Militärs mithilfe von „Sutton‘s Law“ beantwortet. Wie meist in der Geschichte werden Kriege und Konflikte demnach auch in Zukunft voraussichtlich dort ausgetragen werden, wo viele Menschen, Ressourcen sowie politische, kulturelle und religiöse Einflüsse konzentriert sind – ähnlich dem Geld in einer Bank. Dieser Theorie folgend bergen die Städte dieser Welt, die durch exponentielles Bevölkerungswachstum und zunehmende globale Urbanisierung teils unkontrolliert und rapide wachsen, wohl das größte Potenzial für gewaltsame Auseinandersetzungen – denn wo finden sich mehr Menschen und Ressourcen auf engstem Raum vereint als in einer der unzähligen Metropolen und Städte der Welt?

Globale Trends wie Bevölkerungswachstum und Urbanisierung, vor allem in weniger entwickelten Teilen der Erde, steigern die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer urbaner Konflikte und somit auch die Wahrscheinlichkeit, dass westliche Streitkräfte in urbane Einsätze verwickelt werden.2 Das urbane Einsatzgebiet, so die Argumentation der hier vorgestellten Dissertation, dient dabei als Katalysator ohnehin anspruchsvoller taktischer Gegebenheiten und übergeordneter sozio-kultureller Entwicklungen und stellt westliche Streitkräfte deshalb wiederholt vor schier unlösbare Herausforderungen.

Ein wichtiger Bestandteil der Dissertation wird dabei die Beleuchtung urbaner Konflikte im Kontext einer humanisierten, westlichen Kriegsführung sein. Gegen Ende des Vietnamkrieges begannen westliche Gesellschaften damit, in Bezug auf militärische Einsätze veränderte Erwartungen an ihre Regierungen und Militärs zu richten. Post-heroische Bevölkerungen waren nicht mehr bereit ihre Söhne und Väter für vermeintlich aussichtslose und sinnlose Kriege zu opfern und hohe Zahlen an eigenen militärischen Verlusten und auch zivilen Opfern hinzunehmen. Von Streitkräften wurde erwartet, Operationen zu schnellem Erfolg zu führen und das auf möglichst unblutige Art und Weise.3 Insbesondere in urbanen Einsatzszenarien, in welchen hohe Verluste und ein großes Risiko für die Zivilbevölkerung typische Charakteristiken sind, hatte diese Erwartung einer „humanen“ Kriegsführung4 weitreichende Auswirkungen und beeinträchtigte nachhaltig das Agieren westlicher Truppen.

Auch wenn Themen wie urbane Konflikte und urbane Kriegsführung in vergangenen Jahrzehnten immer wieder das Interesse der Wissenschaft auf sich zogen und teilweise sehr ausgiebig mit Blick auf einzelne historische Beispiele bearbeitet wurden, so besteht bis heute kaum eine Studie, die urbane Operationen im Kontext eines Humanisierungs-Trends in der westlichen Kriegsführung beleuchtet. Obwohl post-heroische und humanistische Gesellschaften und ihre Haltung zu Krieg und militärischer Gewalt als eigeneständiges Forschungsgebiet umfassend analysiert wurden, so spielt dieser Themenkomplex in der Betrachtung und Bewertung westlicher militärischer Operationen in urbanen Szenarien bestenfalls eine Nebenrolle. Zahlreiche Publikationen befassen sich mit der Frage, was es für eine westliche Streitkraft bedeutet, in einer Stadt zu operieren – kaum eine Publikation geht jedoch der Frage nach, was es für eine westliche Streitkraft bedeutet auf „humane“ Art und Weise in einer Stadt zu operieren.

Die hier vorgestellte Dissertation möchte letzterer Frage nachgehen und somit einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten. Aus der Untersuchung entsprechender zeitgeschichtlicher Beispiele militärischer Operationen sollen Rückschlüsse darauf gezogen werden, was es für (westliche) Streitkräfte seit den späten 1960er Jahren bedeutete, in urbanen Szenarien zu agieren. Die Analyse soll hierbei die in der Forschung überproportional repräsentierte Betrachtung taktischer Besonderheiten eines urbanen militärischen Einsatzes überschreiten und auch normative, politische und gesellschaftliche Einflussfaktoren vor dem Hintergrund post-heroischer Gesellschaften beleuchten.

Vier Fallbeispiele urbaner Operationen dienen diesem Projekt als Forschungsbasis. Zu den untersuchten Episoden zählen die Kämpfe der US-Streitkräfte um Hue und Saigon im Jahr 1968, der Einsatz der britischen Armee in den Städten Nordirlands – insbesondere die Anfangszeit der Operation zwischen 1969 und 1975 –, der Einsatz der Internationalen Truppen in Mogadischu, Somalia, im Jahr 1993 sowie die Erfahrungen der amerikanischen Streitkräfte in den Kämpfen um Falludscha im Irak im Jahr 2004. Auf dieser Grundlage aufbauend werden zwei Kategorien erarbeitet, die zum einen für urbane Operationen spezifische, taktische und zum anderen allgemeinere, normative Einflussfaktoren zusammenfassen. Hierdurch wird aufgezeigt, innerhalb welches Handlungsrahmens aus taktischen Gegebenheiten und politischen Vorgaben sowie gesellschaftlichen Erwartungshaltungen der militärische Akteur im jeweiligen Einsatz agierte. Ausgehend vom Vietnamkrieg wird aufgezeigt, wie normative Aspekte, wie die Vermeidung von militärischen Verlusten und zivilen Opfern seit den späten 1960er Jahren zunehmend Einfluss auf den Verlauf und die Durchführung militärischer Operationen hatten. Des Weiteren wird die besondere Dynamik beleuchtet, die dieser Einfluss im Rahmen urbaner Einsatzszenarien aufgrund der jeweiligen vorherrschenden taktischen Gegebenheiten entwickelte.

Methodisch basiert dieses Vorhaben in erster Linie auf der qualitativen Auswertung verschiedener Akten und Dokumente, der an den Einsätzen beteiligten nationalen und supranationalen Akteure. Im Vordergrund stehen dabei die USA, Großbritannien sowie die Vereinten Nationen. Als Quellengrundlage dienen diverse militärische und politische Dokumente, wobei vor allem Einsatzberichte, Strategiepapiere, Handlungsweisungen und Dienstanweisungen von besonderem Interesse sind. Quellenmaterialien der älteren Fallbeispiele Vietnam und Nordirland sind hier im Allgemeinen besser und in größerer Zahl zugänglich als Akten und Dokumente der aktuelleren Beispiele Mogadischu und Falludscha, deren Analyse deshalb verstärkt auf Publikationen fußt. Ergänzt wird das Quellenmaterial durch breit gefächerte Sekundärliteratur aus unterschiedlichen Fachrichtungen, um die historische Argumentation des Projektes durch einen interdisziplinären Ansatz zu stärken und zu unterstreichen.

Die hier vorgestellte Dissertation zu urbanen militärischen Operationen in einer „humanen“ Welt entsteht aktuell an der Professur für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt der Universität Potsdam unter Betreuung von Prof. Dr. Sönke Neitzel. Gefördert wird das Projekt dabei durch die Promotionsförderung der Hanns-Seidel Stiftung.

Dieser Beitrag wurde redaktionell betreut durch Lisa-Marie Freitag.

 

Zitierempfehlung: Jonas Neugebauer, Der humane, urbane Krieg. Militärische Operationen im urbanen Raum in Zeiten von Humanisierung und Post-Heroismus, in: Portal Militärgeschichte, 23. Mai 2022, URL: https://portal-militaergeschichte.de/neugebauer_urban (Bitte fügen Sie in Klammern das Datum des letzten Aufrufs dieser Seite hinzu).

  • 1. Michael Desh, Soldiers in Cities. Military Operations on Urban Terrain, 2001, S. 3.
  • 2. David Kilcullen, Out of the Mountains. The Coming Age of the Urban Guerrilla, New York 2013.
  • 3. Robert Mandel, Security, Strategy, and the Quest for Bloodless War, Boulder 2004.
  • 4. Christopher Coker, Humane Warfare, London 2001.
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