"Den lasse ich umlegen, das wird unser Verräter!" Endphaseverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung, 1945
Wencke Meteling
Miszelle
Veröffentlicht am: 
27. Oktober 2017

Der nationalsozialistische Endphaseterror des Zweiten Weltkrieges gehört bekanntlich zu den besonders blutigen Kapiteln der Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Die Gewaltorgien der letzten Kriegsmonate galten vorwiegend den angestammten Opfergruppen nationalsozialistischer Terrorherrschaft, nicht der deutschen „Normalbevölkerung“, wie Michel Scheidegger in seiner Arbeit einleitend klar herausstellt. Zahlenmäßig betrachtet, waren Endphaseverbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung Ausnahmen – Schätzungen belaufen sich auf ca. 1.000 Opfer. Just diese Verbrechen sind Gegenstand seiner an der Universität Bern entstandenen Masterarbeit, die es hier zu würdigen gilt.

Einleitend legt Michel Scheidegger in einem kritischen Problemaufriss sowohl die Geschichte der Rezeption der Endphaseverbrechen als auch deren Forschungsgeschichte dar. Er weist besonders auf die „juristische Verbrämung“ in den Nachkriegsprozessen vor, in denen äußerst milde Strafurteile bei Endphaseverbrechen gefällt wurden. Insgesamt herrschte in der Bundesrepublik lange ein apologetischer Umgang mit diesen Verbrechen vor.

Seine Studie ist an der Neueren Täterforschung orientiert. Darin verfolgt er das Anliegen, die Breite und Vielfalt der an den Endphaseverbrechen beteiligten Zivilisten aufzuzeigen. Es geht ihm um die strukturellen Ursachen und die handlungsleitenden Motive spezifischer Täter – „ganz normaler Männer“, wie es in Anlehnung an Christopher Browning heißt – „in der jeweiligen Mikrosituation eines Verbrechens“ (S. 14). Beim Täterkreis der Endphaseverbrechen handelte es sich nämlich nicht nur um einen kleinen Zirkel fanatischer NS-Funktionäre, sondern es war eine breite Gruppe aus der Bevölkerung daran beteiligt. Häufig wurde der Endphaseterror zu einem Ventil, um persönliche, lokale Konflikte zu bereinigen. Mit eleganter Feder schreibt Scheidegger gegen die apologetisch-vereinfachende Erklärung der Endphaseverbechen, bei der ,böse Nazis‘ als Täter dichotomisch der ,armen deutschen Bevölkerung‘ als Opfer gegenübergestellt werden. Diese Erklärung ist ebenso wenig zugreffend wie die hartnäckig fortlebende, simple Grenzziehung zwischen Nationalsozialisten und Zivilisten. Waren Nazis etwa keine Zivilisten? Und waren Zivilisten keine Nazis?

Im ersten Teil seiner Arbeit analysiert er kenntnisreich und systematisch die Ursachen der NS-Verbrechen, indem er den Blick auf die Befehlskette und die am Terror beteiligten Verbände lenkt. Hitler, Himmler und die Parteispitze ebneten den Weg für eine Eskalation der Gewalt nach innen, indem sie die Rechtsstaatlichkeit weiter aus den Angeln hoben, immer neue Terrororganisationen schufen und die ausführenden Organe an der Basis schalten und walten ließen. Neben der SS verübten auch Teile der Wehrmacht, polizeiliche Einheiten, Volkssturm und Hitlerjugend sowie das „Freikorps Adolf Hitler“ Terror. Einen eigenen Schwerpunkt in der Arbeit bilden die noch kaum erforschten, berüchtigten „Fliegenden Stangerichte“. Als entscheidende, überwölbende Trends macht Scheidegger die zunehmende Dezentralisierung und Entbürokratisierung aus. Sie sorgten dafür, dass auch das letzte Deckmäntelchen an Rechtmäßigkeit schließlich fallen gelassen wurde. Dadurch vergrößerten sich die Handlungsspielräume für individuelle Rache- und Gewalttäter vor Ort.

Herzstück der Arbeit ist der zweite Teil, in dem spezifische Täter und ihre Verbrechen aus einer Mikroperspektive „von unten“ analysiert werden. Aus der Fülle der Strafurteile aus der ostdeutschen Nachkriegsjustiz, auf deren Auswertung die Studie beruht, greift Scheidegger drei symptomatische Fallbeispiele heraus, die gleichermaßen faszinieren, erhellen und entsetzen. Akribisch im Detail, beinahe detektivisch, umsichtig in Analyse und Quelleninterpretation und mit großem darstellerischen Geschick seziert er diese drei Fälle, führt uns mitten hinein in die blutigen Abgründe des Jahres 1945.

Die Studie ist eine beeindruckende analytische, interpretatorische und erzählerische Forschungsleistung zur Erklärung der Endphaseverbrechen an deutschen Zivilisten, die nicht nur die Fachwelt bereichern, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren dürfte. Anregend für die Fachdiskussion dürfte insbesondere Scheideggers Faktorenmodell zur Erklärung der sich radikalisierenden Endphaseverbrechen sein, das über den bisherigen Erklärungsstand (etwa von Ian Kershaw, Sven Keller und Klaus-Dietmar Henke) hinausgeht. In dem Modell verknüpft er breitere kontextuelle Faktoren in der Endphase mit strukturellen Faktoren (wie der Radikalisierung der Befehlslage, dem Machtzuwachs der radikalsten Teile des NS-Regimes, der Delegierung von Verantwortlichkeit an untere Stellen sowie der Gewöhnung ans Morden) sowie situativen Faktoren (wie Gruppendruck, Gelegenheitsstrukturen, Angst und privaten Rachemotiven) und gewichtet sie angemessen. Eine vermeintliche spezielle Gewaltdisposition nationalsozialistischer Durchhalteefanatiker hält Scheidegger für nachrangig.

Bei Michel Scheideggers Arbeit handelt es sich um einen wichtigen, äußerst lesenswerten Beitrag der Neueren Täterforschung, an dem sich künftige Forschungen orientieren dürften. Mit guten Argumenten plädiert er dafür, deutsche Zivilisten stärker als bislang – und in klarer Abgrenzung zu Nachkriegsmythen deutscher Opferschaft – als Mitwirkende am Endphaseterror zu begreifen.

Im Namen des gesamten Vorstandes darf ich Ihnen, lieber Herr Scheidegger, herzlich gratulieren!

Epochen: