Christine Schramm
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
05. August 2019

Tilman Venzl fokussiert in seiner Studie auf soziale Bedingungen und gewinnt dadurch neue Erkenntnisse über Bearbeitungen und Funktionen eines zeitgenössisch hochbrisanten Dramenstoffs. Chronologisch durchschreitet er den Forschungszeitraum von 1700 bis 1793. Die exemplarischen Dramen analysiert er detailliert aus originellen Blickwinkeln und zeichnet damit die Entwicklung der Militärdramen nach. Die facettenreiche Untersuchung deckt auf, was uns die Stücke heute über den Alltag im kriegerischen 18. Jahrhundert verraten können.

Die Theaterpraxis veränderte sich im 18. Jahrhundert wesentlich. Ein lebendiger dramentheoretischer Diskurs regte die Produktion zeitgemäßer Stücke an. Und auch die Lebenswirklichkeit drängte auf ihre dramatische Umsetzung. Zu den brisanten sozialen Themen des 18. Jahrhunderts gehörte die Einrichtung stehender Heere und das Zusammenleben von Militär und Zivilbevölkerung. Allein das Ausheben der Heere und deren Versorgung enthielt jede Menge Konfliktpotential. Und gerade in solchen Zeiten soll Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm, das 1767 als Reaktion auf den Siebenjährigen Krieg erschien, das erste Stück dieser Art gewesen sein und allen nachfolgenden Vertretern des Genres als einziges Vorbild gegolten haben?

Diese bislang weitverbreitete These, die von Karl Gotthelf Lessing in der Biographie seines Bruders 1793 zuerst formuliert und im nachfolgenden Diskurs bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als verbindliche Einordnung tradiert wurde, hinterfragt Venzl und findet eine Reihe plausibler Gegenargumente. Es gelingt ihm zu belegen, dass das sogenannte Soldatenstück bereits vor dem Siebenjährigen Krieg enorme Popularität genoss. Soldatenfiguren gehörten bereits seit der Antike zum gängigen Bühnenpersonal. Als großmäulige Typen wurden diese milites gloriosi regelmäßig der Lächerlichkeit preisgegeben. Doch es handelte sich bislang eher um versprengte Einzelcharaktere. Von der wachsenden Bedeutung der stehenden Heere für das zivile Leben zeugen die nun neuen Produktionen populären Charakters, von denen nicht mehr viele erhalten sind.

Drei Quellen schöpft Venzl aus, um einen ‚Spielplan‘ für das militärische Genre im Forschungszeitraum zu rekonstruieren. Ein Artikel, der anonym 1793 in der Zeitschrift Olla Potrida unter dem Titel Plan eines militairischen Theaters in deutscher Sprache (3. Stück bzw. Heft, S. 58-72) erschien, entwirft eine militärische Theater-Bibliographie ab 1766 und unterscheidet die zu betrachtende Gattung des Militärdramas von heroischen Dramen, neuen Ritterspielen und Revolutionsstücken. Als wichtigstes Merkmal gilt hier die Aktualität des Stoffs. Dieses Kriterium wendet Venzl an bei der Durchsicht der Bibliographia dramatica et dramaticorum von Reinhart Meyer auf der Suche nach Militärdramen von 1701-1769, um Belege für die Gattung vor Lessings Minna von Barnhelm zu finden. Auch in der Studie Das deutsche Soldatenstück des XVIII. Jahrhunderts seit Lessings Minna von Barnhelm von Karl Hayo von Stockmayer sucht Venzl nach Dramen, deren Titel und Personal auf eine militärische Thematik hinweisen. Ergebnis ist eine Liste von 294 Titeln (S. 107-115) für den genannten Forschungszeitraum, die allein schon die weite Verbreitung und Popularität der Gattung dokumentiert. An dieser Liste liest Venzl ab, dass das höfische Theater die Thematik vermeidet, die Rezipienten also ausschließlich dem bürgerlichen Stand angehören. Außerdem befassen sich verhältnismäßig viele Komödien mit dem Stoff. Eine Unterscheidung zwischen komischer und tragischer Bearbeitung des Sujets hat für die weitere Argumentation kaum Relevanz. Der Autor streift zwar zu Beginn den Wandel der Komödienästhetik im 18. Jahrhundert, greift aber auf diese Überlegungen später nicht mehr zurück. Im Zusammenhang mit frühen Beispielen für das Militärdrama erwähnt er die Komik der Inkongruenz und den Körpereinsatz der Komödianten, schöpft das Potential dieser Beobachtung aber nicht aus. Das tragische Genre und seine Varianten finden so gut wie keine Erwähnung. Die Wechselwirkungen zwischen Produktions-, Wirkungs- und Rezeptionsästhetik bergen jedoch wichtige Hinweise auf die zeitgenössische Mentalität, soziale Bedingungen und die Funktionen eines Dramas. Diese ästhetischen Aspekte eines dramatischen Metagenres in die hier vorgelegte Grundlagendiskussion einzubeziehen, bleibt der Autor schuldig.

 

Interdisziplinärer Zugang

Den Werkinterpretationen, denen Venzl jeweils umfangreiche Untersuchungen zum zeitgenössischen Erlebnis- und Ideen-Kontext, aus dem die Werke hervorgegangen sein sollen, beistellt, geht eine detaillierte und kritische Darstellung des Forschungsstandes voraus. Der Autor liefert hier einen Überblick über die Entwicklung der Militärgeschichte der Frühen Neuzeit ebenso wie über die Perspektive der Literaturwissenschaft auf militärische Sujets. Damit definiert er nicht nur die Forschungslücke und die Originalität seiner Thesen. Gerade für Einsteiger in die Thematik, sei es in historischen oder poetologischen Disziplinen, bietet diese Darstellung sehr gute Orientierung und vielerlei Anregungen. Der interdisziplinäre Zugang erlaubt dem Autor viele Facetten der dramatischen Verarbeitung des Militärs einzufangen. Die Neue Militärgeschichte der frühen Neuzeit, die etwa seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Rolle des Militärs in der Gesellschaft ins Forschungsinteresse rückt, erweist sich als geeignete Folie, vor der Venzl das Thema nun auch literatursoziologisch sezieren kann.

 

Das stehende Heer auf der wandernden Bühne

An der Schnittstelle zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert, wo Altbewährtes und Erneuerung sowohl in der Gestaltung des Militärs und seiner sozialen Bedeutung als auch in der Dramaturgie zusammenkamen, beginnt Venzl seine Untersuchung. Johann Georg Ludovicis Karl XII. vor Friedrichshall thematisiert den Großen Nordischen Krieg und gilt als sehr erfolgreiches aber bislang kaum untersuchtes Stück im Repertoire der Wanderbühnen. Der neue Soldatentypus der stehenden Heere tritt hier nach wie vor als lustige Figur auf, als tölpelhafter Kerl, der den Krieg und seine eigene Rolle darin nicht begreift. Heroismus ist das tragende Thema. Mit der Haupthandlung um den Schwedenkönig wechseln sich Hans-Wurst-Szenen ab, die das Los des einfachen Soldaten veranschaulichen. Zeitaktuelle Thematiken fügen sich hier in die bewährte Dramaturgie, die zwischen Bewunderung und Schrecken unterhält und ermahnt.

 

Verbürgerlichung der Bühnensoldaten

Mitte des Jahrhunderts löste eine zunehmend bürgerliche Dramatik die Wanderbühnen und ihre Dramenästhetik ab. Das brachte auch eine neue Herangehensweise an die militärischen Topoi mit sich. Venzl wählt das Nachspiel Der Officier von Ludovici als Beispiel für diesen Wandel. Die Vorurteile gegen Soldaten und deren Sittlichkeit sind Thema dieser romantischen Komödie. Doch hier ist nicht mehr der Soldat dem Spott des Publikums ausgesetzt. Die Vorurteile werden von Nebenfiguren durchdekliniert, denen es ihrerseits an Einsicht in die realen Verhältnisse mangelt und deren geistige Unbeweglichkeit als lächerlich angeprangert wird. Die Ideen von Patriotismus und Ehre sowie die Vorstellung von einem aufgeklärten, gebildeten Offizier betraten nun als Leumund für den militärischen Stand die Bühne.

 

Das Meisterstück auf dem Prüfstand

Venzl revidiert systematisch die Rolle, die Lessings Minna von Barnhelm bislang für die Entwicklung des Militärdramas gespielt habe. Dafür rekonstruiert er, welche Stücke dieses Sujets Lessing gekannt haben muss und erteilt nach Auswertung der zeitgenössischen Rezeption dem Lustspiel die Funktion, die Gattung in der Folge aufzuwerten. Daher widmet er diesem Stück ein Kapitel mit ausführlichen Betrachtungen zu dessen Bedeutung für die weitere Genese des Genres. Besonderes Augenmerk legt er auf Lessings Darstellung der Nachwirkungen des Siebenjährigen Krieges für den Major von Tellheim und schließt damit eine Lücke in der Lessingforschung. In der Werkanalyse wurden militärhistorische Kontexte tatsächlich bisher kaum behandelt. Venzl gelingt es, dem Leser Tellheim als Major des preußischen Freicorps vor Augen zu führen, der in seinen patriotischen Gefühlen durch ein Fehlurteil der bürokratisch unflexiblen Militärverwaltung enttäuscht wurde. Darüber hinaus erschließt der Autor das Lustspiel als ein Zeitzeugnis der Finanzpolitik des preußischen Militärs, die Grund für Tellheims prekäre Situation und Auslöser der Handlung ist.

 

Von Militärs für Militärs und alle anderen

Ab den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts wurden die Militärdramen zu einem regelrechten Massenphänomen, was nicht zuletzt mit der zunehmenden Präsenz des Militärs im Diskurs der Spätaufklärung zusammenhängt. Dieser erörterte mit wachsendem Interesse Verbesserungsmöglichkeiten in volkswirtschaftlichen und humanitären Bereichen. Der aufgeklärte Offizier griff jetzt immer öfter selbst zur Feder. Zu Werbezwecken wurde der militärische Hintergrund eines Autors sogar besonders hervorgehoben, wie bei Johann Gottlieb Stephanie d. J. Sein bürgerliches Rührstück Der Deserteur aus Kindesliebe von 1773 dient Venzl als Beispiel für diese Variante des Militärdramas in der Blütezeit des Genres.

 

Sturm und Drang, Ehe und Moral

Im Sturm und Drang findet Venzls Darstellung der Entwicklung des Militärdramas im 18. Jahrhundert ihren Höhepunkt und Abschluss. Das bürgerliche Trauerspiel Die Soldaten von Jakob Michael Reinhold Lenz gibt Venzl die Gelegenheit, die Rousseau-Rezeption des Dramatikers als philosophischen Kontext für das Drama zu erschließen. Im Zentrum stehen dabei die Soldatenehen – der Topos, an dem in der Realität die Interessen des Einzelnen und die gesellschaftliche Organisation mit den Ansprüchen an die Humanressourcen der stehenden Heere kollidieren. Mit sozialreformatorischer Intention thematisiert Lenz diese auch in den Schriften Berkaer Projekt und Über die Soldatenehen. Das Drama verhandelt sowohl das Bedürfnis nach – als auch den Vorschlag für – ein gelingendes Zusammenleben von Militär und Zivilbevölkerung. Venzl beansprucht, als erster Rousseau in die Lenz-Forschung einzubeziehen. Dem versprochenen Erkenntnisgewinn, steht seine Zitatpolitik allerdings im Wege, denn für die französischen Originalzitate bietet er keine Übersetzung an. So enthält er wesentliche Aspekte seiner Argumentation Lesern, die des Französischen nicht hinreichend mächtig sind, vor.

Insgesamt fällt auf, dass sich der Autor bei der Strukturierung seiner Arbeit streng an die Konventionen der Fachdisziplin für eine Qualifikationsarbeit hält. Für die Veröffentlichung seiner Ergebnisse hätte er diese Struktur etwas aufbrechen und dadurch den Text an einigen Stellen verschlanken und leserfreundlicher gestalten können. Außer Zweifel steht, dass Venzl wertvolle Literaturarchäologie leistet, indem er durch die Kombination der Disziplinen und die Erschließung bislang unbeachteter Quellen Hinweise auf den populären Theaterbetrieb des 18. Jahrhunderts für eine umfassende kulturhistorische Untersuchung birgt. Die Auswahl der Stücke und die Steigerung der Komplexität von Venzls Darstellung scheint eine Verschärfung des Konflikts zwischen dem Militär und der Gesellschaft nachzuzeichnen und zieht einen gelungenen Spannungsbogen über die Gesamtargumentation.

Begleitend zu den Werkanalysen stellt der Autor historische und philosophische Darstellungen in den Dienst seiner Argumentation. Auch wenn ihre Ausführlichkeit diesen Passagen zuweilen Exkurscharakter verleiht, handelt es sich um die Darstellung wichtiger Prämissen für die zeitgenössische Bedeutung des jeweiligen Stücks. Dem Leser drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass Venzls Anspruch, aus den Werkinterpretationen und den jeweiligen Vorüberlegungen „zu verallgemeinernden Aussagen“ (S. 496) aufzusteigen, unerfüllt bleibt. Die Textanalysen haben eher den Charakter eines Belegs für seine vorher aufgestellten Thesen und sind wie ein quod erat demonstrandum jedem Kapitel ohne weitere Schlussfolgerungen angehängt. Dieser Eindruck ist vermutlich der Heterogenität der Einzelwerke innerhalb des Metagenres geschuldet. Ein deutlich erkennbarer roter Faden, der die Gesamtargumentation kompakter zusammenschnürt, hätte die Darstellung einer Gattungsgenese noch schlüssiger wirken lassen. Diese ist für sich in jedem Fall gelungen. Weitere Ansprüche können darauf aufbauend von Folgestudien erfüllt werden.

Insgesamt darf diese Arbeit als ein wertvoller Beitrag gelten, der die Erkenntnisse und Methoden der Neuen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit anwendet, um ein bislang nur lückenhaft betrachtetes Genre des 18. Jahrhunderts sowohl kultur- als auch literaturwissenschaftlich zu beleuchten.

 

Tilman Venzl, „Itzt kommen die Soldaten“. Studien zum deutschsprachigen Militärdrama des 18. Jahrhunderts: Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2019, 608 S., 98,00 €, ISBN 978-3-465-00678-7.

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