Christian Westerhoff
Aufsatz
Veröffentlicht am: 
13. Februar 2020

Die während des Ersten Weltkriegs ca. 3.000 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften umfassenden Regimenter stellten im deutschen Heer einen zentralen Truppenteil dar. Hier vollzogen sich Rekrutierung und Ausbildung der Mannschaften, die praktische Schulung der Offiziere sowie die militärische Sozialisation der unterschiedlichsten Ränge. Die Regimenter pflegten einen besonderen Korpsgeist. Dadurch war die Identifikation mit dem eigenen Regiment wesentlich stärker war als bei größeren militärischen Einheiten wie z.B. Divisionen.

Regimenter spielten auch für die Einbindung der Armee in die Gesellschaft eine wichtige Rolle, waren sie doch über ihre Garnisonsstandorte wesentlich breiter verwurzelt als die kaiserliche Flotte.[1] Allein die Infanterie mobilisierte 1914 mehr als 400 Regimenter.[2]Gleichzeitig war es im Kaiserreich für Städte eine Frage des Prestiges, Standort für ein Regiment zu sein. Eine Garnison vorweisen zu können, galt mindestens ebenso als Standortvorteil wie der Bahnanschluss oder die Präsenz höherer Bildungsanstalten oder Behörden.

Regimentsgeschichten

Für die traditionsbewussten Regimenter spielte die eigene Geschichte eine große Rolle. Nach den Kriegen gegen Napoleon begannen Regimenter in den 1820er Jahren, gedruckte Truppengeschichten herauszubringen. Die Zahl der publizierten Regimentsgeschichten nahm, bedingt auch durch die sich nach 1900 häufenden Regimentsjubiläen, bis 1914 immer weiter zu. Nach Ende des Ersten Weltkriegs erhielt das Genre erneut Auftrieb. Im Vordergrund stand nun die Geschichte der Regimenter im Weltkrieg. Mehr als 1.000 Titel wurden in der Zwischenkriegszeit publiziert, die letzten erst während des Zweiten Weltkriegs.

Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und inmitten eines radikal veränderten Umfeldes sollten die Regimentsgeschichten den Kriegsteilnehmern einen wichtigen Orientierungspunkt bieten.[3] Dies ist insofern bemerkenswert, als in den meisten Infanterieregimentern während des Ersten Weltkriegs ein nahezu vollständiger Personalaustausch stattfand, so dass nur wenige Anfang und Ende des Krieges im selben Regiment erlebten.[4] Als die Regimenter 1918/1919 in die Heimat zurückkehrten, hatten sie mit den 1914 ausgerückten Einheiten somit kaum mehr gemeinsam als ihre Bezeichnung und Geschichte.[5] Die Traditionspflege trat an die Stelle der realen militärischen Einheit, insbesondere wenn diese nach den Bestimmungen des Versailler Vertrages, der nur noch eine deutsche Streitkraft von 100.000 Mann vorsah, aufgelöst wurden.[6] Stellvertretend für eine ganze Region übernahmen die Regimenter die Erinnerungsarbeit und die Aufgabe des Totengedenkens.

Die schriftlichen Erinnerungswerke sollten dafür sorgen, dass die Leistungen des kaiserlichen Heeres nicht in Vergessenheit gerieten.[7] Es ging auch darum, eine bestimmte Deutung des Krieges durchzusetzen, wie z.B. Generalleutnant Constantin von Altrock, bei Kriegsende Kommandeur einer Reserve-Division und nach 1918 Schriftleiter des Militär-Wochenblatts, betonte: „Wir können nicht dulden, daß unsere Kinder und Enkel ihre Kenntnisse über den Weltkrieg aus den Quellen unserer Feinde schöpfen.“[8] Immer wieder wird in Vorworten zudem die Hoffnung ausgesprochen, die Erinnerung an die gemeinsamen Kriegserlebnisse könne die tiefen politischen und gesellschaftlichen Gräben der Weimarer Republik überwinden helfen.[9]

„Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“

Die Erinnerungsschriften an den Ersten Weltkrieg wurden anfangs meist im Selbstverlag herausgegeben und hatten nur einen sehr beschränkten Leserkreis.[10] Dies änderte sich, als sich das Reichsarchiv der Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg widmete. Das Archiv gab ab 1920 die Reihe „Erinnerungsblätter deutscher Regimenter“ heraus, in der bis 1942 ein Großteil der Regimentsgeschichten erschien. Neben den vom Reichsarchiv herausgegebenen offiziellen Reihen „Der Weltkrieg 1914-1918“ und „Schlachten des Weltkrieges“, die den Krieg auf der Ebene der gesamten deutschen Armee beschrieben, sollten auch die Regimenter über eigene Erinnerungswerke verfügen. Beabsichtigt war ein Erinnerungswerk, das die Kriegsteilnehmer auf einer persönlicheren Ebene ansprach. Die Anschlussfähigkeit der Regimentsgeschichten erhöhte sich noch durch die zunehmende Einbindung individueller Kriegserinnerungen und die Illustrierung mit Skizzen, Kartenmaterial sowie privaten Fotos.

Von der Herausgabe der „Erinnerungsblätter“ versprach man sich auch eine Entlastung des Reichsarchivs, das sich in der Nachkriegszeit einer Flut von Anfragen ehemaliger Kriegsteilnehmer sowie von Hinterbliebenen gegenübersah, die um Informationen zu ihrem eigenen Kriegseinsatz bzw. den Todesumständen ihrer gefallenen Angehörigen baten.

Die „Erinnerungsblätter“ erschienen in Unterreihen für die preußischen, bayerischen und sächsischen Truppen. In den Jahren 1929 bis 1941 kam die Reihe „Aus Deutschlands großer Zeit“ und von 1933 bis 1940 die Serie „Deutsche Tat im Weltkrieg 1914/18“ hinzu, für die das Reichsarchiv ebenfalls die entsprechenden Akten zur Verfügung stellte. Außerhalb dieser Reihen erschienen zudem weiterhin einzelne Regimentsgeschichten in diversen Selbstverlagen der Offiziersvereine.

Die Entstehungsbedingungen

Die Autoren der „Erinnerungsblätter“ erhielten vom Reicharchiv redaktionelle Vorgaben und Hilfestellungen beim Abfassen des Manuskripts. Das Reichsarchiv stellte Truppenakten zur Verfügung. Insbesondere die offiziellen Kriegstagebücher der Regimenter bildeten eine wichtige Quellenbasis.

Die Verfasser konnten somit einerseits auf amtliche Quellen zurückgreifen. Andererseits mussten sie eine Verpflichtungserklärung des Reichsarchivs[11] unterschreiben, in der sie einer kritischen Prüfung des druckfertigen Manuskripts zustimmten. Die Drucklegung durfte erst nach Freigabe durch das Archiv erfolgen. Die Autoren hatten sich innen- und außenpolitischer Kommentare völlig zu enthalten. Auch militärische Kritik wurde kaum geduldet.[12] Der sächsische Generalleutnant a.D. Franz Alfred von Kotsch beschwerte sich 1924, dass das Reichsarchiv den Autoren Bedingungen auferlegte, welche „die Unabhängigkeit des Schreibers einer jeden Truppengeschichte“ sehr beschränkten.[13]

Inhalt und Quellenwert

Im Unterschied zu den Überblickswerken oder auf einzelne Kriegsschauplätze bezogenen Darstellungen, werden in den Regimentsgeschichten des Ersten Weltkriegs Einzelheiten des militärischen Geschehens und des Kriegsalltags aus der Sicht einer definierten Gruppe beschrieben. Dies war sicherlich von besonderem Interesse für die ehemaligen Angehörigen des jeweiligen Regiments, die das Beschriebene selbst erlebt hatten. Doch auch für Historiker bieten die Darstellungen heute viele interessante Informationen.

Im Mittelpunkt der Regimentsgeschichten des Ersten Weltkriegs steht die chronologische Abfolge der militärischen Einsätze des Regiments 1914 bis 1918. Es sind detailreiche Schilderungen der Schlachten, der erzielten Erfolge, des heldenhaften Verhaltens Einzelner sowie der erlittenen Verluste – „bei wichtigen Anlässen bis zum einzelnen Mann herab“. [14] Beschrieben werden auch die Ruhe- und Etappenorte, die Organisation der rückwärtigen Dienste und die Konfrontation mit der Zivilbevölkerung. Traditionell nehmen auch die Aufstellung, Gliederung, Stellenbesetzungen, Ehrungen sowie das Gedenken an die gefallenen und verwundeten Regimentsangehörigen eine zentrale Rolle in Regimentsgeschichten ein.

Beim Totengedenken wurden zunehmend nicht nur die gefallenen Offiziere, sondern auch die Namen der Unteroffiziere und in einigen Fällen auch die der Mannschaften mit Todesdatum aufgelistet.[15] Regimentsgeschichten enthalten somit auch Informationen zu einzelnen Personen, wodurch sie für Genealogen, für die Kriegsgräberfürsorge oder für regionalhistorische Fragen eine wichtige Quelle darstellen.

Forschung und Digitalisierung

Während Regimentsgeschichten des Ersten Weltkriegs in der Forschung lange nur wenig Beachtung gefunden haben,[16] erfuhren sie in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit. Zum einen wird das Genre zum Gegenstand kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Untersuchungen der Zwischenkriegszeit.[17] Andere sehen in den Darstellungen der Regimentsgeschichtsschreiber eine Ersatzüberlieferung zu den im Zweiten Weltkrieg verlorenen Aktenbeständen des Potsdamer Heeresarchivs.[18]

Regimentsgeschichten wurden nach 1918 von verschiedenen deutschen Bibliotheken gesammelt. Auch die Weltkriegsbücherei, die heutige Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek (BfZ), legte eine umfangreiche Sammlung von Regimentsgeschichten des Ersten Weltkriegs an. Um die Nutzung dieser Regimentsgeschichten zu erleichtern, hat die BfZ 2014 begonnen, ihren Bestand zu digitalisieren. Langfristiges Ziel ist es, alle in der Württembergischen Landesbibliothek vorhandenen Regimentsschriften des Ersten Weltkriegs online zur Verfügung zu stellen, soweit das Urheberrecht dies zulässt. Die digitalisierten Titel sind über den Katalog der WLB[19] oder überregional über den Karlsruher Virtuellen Katalog (KVK)[20] abrufbar. Im KVK sind auch Truppengeschichten zu finden, die von anderen Bibliotheken digitalisiert wurden. Insbesondere die Deutschen Nationalbibliothek hat ebenfalls zahlreiche Titel online gestellt. Kommerzielle Anbieter bieten ebenfalls digitalisierte Regimentsgeschichten an.[21] Diese sind jedoch nur kostenpflichtig zu benutzen.


[1] Meteling, Wencke: Binnenperspektive von Armeen im Krieg. Französische und preußische Regimenter 1870/71 und 1914-1918, in: Jörg Echternkamp (Hrsg.): Kriegsenden, Nachkriegsordnungen und Folgekonflikte. Wege aus dem Krieg im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 2012, S. 109-134, hier S. 114-117; Meteling, Wencke: Regimentsideologien in Frankreich und Deutschland, 1870-1920, in: Jörg Echternkamp/Stefan Martens (Hrsg.): Militär in Deutschland und Frankreich 1870-2010. Vergleich, Verflechtung und Wahrnehmung zwischen Konflikt und Kooperation, Paderborn u.a. 2012, S. 25-48, hier S. 29; Meteling, Wencke: Ehre, Einheit, Ordnung. Preußische und französische Städte und ihre Regimenter im Krieg, 1870/71 und 1914-1919, Baden-Baden 2010, S. 276.

[2] Gross, Gerhard P.: Infanterie, in: Gerhard Hirschfeld/ Gerd Krumeich/ Irina Renz (Hrsg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Erneut aktualisierte und erweiterte Studienausgabe, 2. Aufl., Paderborn 2014, S. 573-575.

[3] Spraul, Gunter: Der Franktireurkrieg 1914. Untersuchungen zum Verfall einer Wissenschaft und zum Umgang mit nationalen Mythen, Berlin 2016, S. 69.

[4] Meteling, Zur Binnenperspektive, S. 126.

[5] Ebd., S. 133-134.

[6] Ebd., S. 44. Siehe auch Harms, Heinrich: Die Geschichte des Oldenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 91. Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Truppenteile des ehemaligen preußischen Kontingents, Bd. 331, Oldenburg 1930, S. 435.

[7] Siehe hierzu z.B. Harms, ebd., S. 435.

[8] Altrock, Constantin von: Über Truppengeschichten. Zur Kriegsgeschichtsschreibung über den Weltkrieg, in: Militär-Wochenblatt, 104 (1920), H. 2, Nr. 110 vom 8.5.1920, Sp. 2022-2024. Ähnlich äußert sich ein anderer Autor: „Ebensowenig wie unseren Feinden eine Abrüstung der Geister möglich sein wird, ebensowenig werden sie imstande sein, die Erinnerung an die großen Zeiten des Weltkrieges auszurotten“. Simon-Eberhard, Max: Königl. Preußisch. Ostfriesisch. Feldartillerie-Regiment Nr. 62. Erinnerungsblätter deutscher Regimenter, Artillerie-Heft, Bd. 9, Oldenburg 1922, S. 139.

[9] Siehe z.B. Wedel, Hasso von: [Geleitwort], in: Fritz Schillmann/ Major Neyman/ Hasso von Wedel: Grenadier-Regiment König Friedrich Wilhelm I. (2. Ostpreußisches) Nr. 3 im Weltkriege 1914 – 1918. Erinnerungsblätter deutscher Regimenter. Truppenteile des ehemaligen preußischen Kontingents, Bd. 118, Oldenburg 1924, S. 10.

[10] Murawski, Erich: Truppen-Geschichten alter und neuer Art, in: Wehrkunde, 8 (1959), S. 157-164, S. 212-218, hier S. 157.

[11] Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg, RH 18/v.66: Allgemeine Bestimmungen für die Bearbeitung von Truppengeschichten vom 27. Mai 1929 (Abschrift).

[12] Pöhlmann, Markus: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik. Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914-1956, Paderborn 2002, S. 198f.

[13] Kotsch, Franz Alfred von: Aus der Geschichte des früheren königlich sächsischen 9. Infanterie-Regiments Nr 133, 1881-1918, Dresden 1924, S. 4.

[14] Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik, S. 199.

[15] Siehe z.B. Ehrenliste, in: Harms, Die Geschichte des Oldenburgischen Infanterie-Regiments Nr. 91, S. 160, 162.

[16] Lediglich einige ältere Aufsätze gaben bisher Auskunft über diese Quellengattung. Eine umfangreiche Bibliographie erschien in erweiterter Neuausgabe 2004: Mohr, Eike: Bibliographie zur Heeres- und Truppengeschichte des Deutschen Reiches und seiner Länder 1806-1933, 2 Bde., Bissendorf 2004. Eine knappe kritische Einordnung findet sich außerdem in Pöhlmann, Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik, S. 198f.

[17] Siehe z.B. Meteling, Ehre, Einheit, Ordnung; Dissertationsprojekt von Sara-Verena Adamsky M.A.: Der Erste Weltkrieg in den "Erinnerungsblättern deutscher Regimenter". Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Weimarer Republik", http://www.geschichte.hhu.de/lehrstuehle/neuere-geschichte/unsere-forschung/dissertationsprojekte.html.

[18] Siehe z.B. Keller, Ulrich: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914, Paderborn 2017; Spraul, Der Franktireurkrieg 1914; Szkudlinski, Jan: „We’re half-way to Asia here. The Conduct of the German Army Units on the Eastern Front in 1914 and 1939, in: Judith Devlin/ Maria Falina/ John Paul Newman (Hrsg.): World War I in Central and Eastern Europe. Politics, Conflict and Military Experience, London 2018, S. 101-116. Michael Epkenhans sieht eine solche Verwendung von Regimentsgeschichten kritisch. Er verweist darauf, dass Regimentsgeschichten nicht unbedingt als verlässliche Quelle gelten können, wenn es um die Rekonstruktion konkreter Ereignisse geht, da sie Jahre nach dem Krieg verfasst wurden und – zumindest im Falle der preußischen Regimenter – ihre Grundlagen nicht mehr überprüft werden können. Epkenhans, Michael: Was geschah denn nun wirklich? Gunter Spraul über deutsche Grausamkeiten in Belgien im Ersten Weltkrieg, in: FAZ vom 1.11.2016, S. 6.

[19] https://www.wlb-stuttgart.de/literatursuche/kataloge/

[20] https://kvk.bibliothek.kit.edu/

[21] https://military-books.lima-city.de/hp20/regimenter-bataillone.html

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