Interview mit Bernhard Kroener (Potsdam)
Bernhard Kroener
Interview
Veröffentlicht am: 
22. Oktober 2012

Zum Start des Portals lassen prominente Vertreter des Fachs die bisherige Entwicklung der Militärgeschichtsschreibung im deutschsprachigen Raum Revue passieren und zeigen Forschungsperspektiven für die Zukunft auf. Die Interviewfolge wird mit Prof. Dr. Bernhard Kroener fortgesetzt. Er hat seit 1997 den Lehrstuhl für Militärgeschichte / Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam inne.

Wie hat sich die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung in den vergangenen 25 Jahren entwickelt?

Noch bis in die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschränkte sich die Militärgeschichtsforschung in Deutschland im Wesentlichen auf die Arbeiten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, wobei der Schwerpunkt auf der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts lag. Universitätshistoriker, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, scheuten sich vor militärgeschichtlichen Themen. Dies galt in besonderer Weise für die Frühneuzeitforschung. Von renommierten Fachkollegen habe ich in jenen Jahren nicht selten die Bemerkung gehört: Das ist ja hochinteressant, leider verstehe ich davon zu wenig, denn unsere akademischen Lehrer haben uns mit dieser Thematik nie vertraut gemacht. Ein Blick auf Autoren und Veröffentlichungen im Bereich der deutschen 'Wehrgeschichte' seit den zwanziger Jahren erklärt manche forscherliche Abstinenz in der zweiten Jahrhunderthälfte.

Seit der Mitte der neunziger Jahre, möglicherweise befördert durch den Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung und damit der nuklearen Bedrohungsszenarien, oder vielleicht noch stärker durch die Rückkehr des konventionellen Krieges in beliebte europäische Ferienregionen und schließlich den Einsatz deutscher Streitkräfte in europäischen und außereuropäischen Krisenregionen, ist vor allem bei den jüngeren, nicht durch den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit geprägten Historikern das Bewusstsein dafür gestärkt worden, dass die Erforschung der Vergangenheit ohne eine intensive Beschäftigung mit der Rolle des Militärs in und den Wirkungen des Krieges auf die Gesellschaften aller historischen Epochen notwendigerweise Stückwerk bleiben muss. Damit ist die Militärgeschichte nicht mehr nur eine Subdisziplin der Geschichtswissenschaft, eine verzichtbare Arabeske der Forschung, sondern in der Mitte des Faches angekommen. Organisierte Gewalt zur Stabilisierung oder Veränderung der inneren Verhältnisse eines Gemeinwesens und als selbstverständliches Stilmittel der außenpolitischen Beziehungen stellt ein epochenübergreifendes Phänomen der Menschheitsgeschichte dar. Auch die Bemühungen über zeitlich begrenzte oder dauerhafte Friedensordnungen werden nur vor dem Hintergrund der Intensität vorangegangener Kriegshandlungen verständlich. Mit dieser Zielsetzung ist die Militärgeschichte inzwischen auch im Kanon der universitären Lehre fest verankert.

 

Wo steht die deutschsprachige Militärgeschichtsschreibung heute im Vergleich zum Ausland?

Bedingt durch ihre frühe Öffnung zur Sozialgeschichte und in den letzten Jahren in Richtung auf neue methodische Herausforderungen, hat die Militärgeschichte in Deutschland sich bereits sehr früh von der traditionellen Kriegsgeschichte gelöst und einen Schulterschluss mit der allgemeinen Geschichte gesucht. Sie hat dabei zunächst durchaus Anstöße aus der angelsächsischen und der französischen Forschung übernommen. Mit Blick auf die bis heute andauernde Diskussion über Formen und Grenzen der 'Military Revolution' und 'Military Effectiveness' hat es inzwischen bisweilen den Anschein, als ob sich die deutsche Forschung auf einzelnen Themenfeldern dynamischer und vielseitiger entwickelt.

 

Welche aktuellen, inhaltlichen oder methodischen Entwicklungstendenzen halten Sie für bedeutend?

Die neue Militärgeschichte, die sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten methodisch und inhaltlich aktuellen Themenfeldern, wie etwa der Geschlechtergeschichte, der Mikrogeschichte, der Historischen Anthropologie oder der Kulturgeschichte zugewandt hat, löste sich damit von der bis dahin unbestrittenen Engführung auf herrschaftliches Handeln, auf die Perspektive 'von oben'. Die Lebenswelt des 'Militärs', wobei für den Begriff selbst bis heute noch keine befriedigende epochenübergreifende Definition gefunden werden konnte, stellt keine in sich geschlossene Entität dar. Der Soldat existierte und existiert zugleich in mehreren gleichzeitigen Lebenszusammenhängen, repräsentierte in seinem Handeln zeitgenössische Wertvorstellungen, Welt- und Gesellschaftsbilder. Die Erfahrung des Krieges bestimmte in entscheidender Weise die jeweiligen Nachkriegszeiten. Die Erforschung des gesellschaftlichen Ortes und der Selbstverortung des Soldaten im Friedenszeiten hat inzwischen Fahrt aufgenommen und manche liebgewordenen Klischees, mit denen die Deutung neuzeitlicher Fundamentalvorgänge, nicht zuletzt unter Berufung auf die staatsbildende und -konsolidierende Rolle des Militärs, argumentativ untersetzt wurde, wie etwa "Sozialdisziplinierung", "absoluter Fürstenstaat" und "soziale Militarisierung" in Frage gestellt.

Es kann nicht oft genug wiederholt werden: Niemand wird als Soldat geboren und die meisten Soldaten sterben in nichtmilitärischen Lebensverhältnissen. Es gilt also zu klären, unter welchen Bedingungen ein Untertan Soldat wurde, welches soziale Kapital damit verbunden wurde, in welchem Umfang er während seines Militärdienstes innermilitärischer Disziplinierung unterworfen war oder sich ihr zu entziehen verstand und in welcher Form sich die Wiedereingliederung in die ihn umgebende Gesellschaft realisiert wurde. Spezifische militärische Rituale, 'rites de passage' und Formen der Performanz bilden somit einen Schwerpunkt kulturwissenschaftlich angelegter Deutungsangebote militärischer Existenz in historischer Perspektive. Die damit einhergehende Frage, in welchem Umfang sich die soldatische Existenz von anderen Existenzformen unterschied, hat die Forschung bisher noch nicht hinreichend beantworten können.

Dabei ist die Quellengrundlage der neuen Militärgeschichte, auch hinsichtlich der Verhältnisse in der Frühen Neuzeit, inzwischen weitaus breiter als noch vor zwei Jahrzehnten. Die Historische Bildkunde und die Volkskunde haben, ebenso wie etwa die Schlachtfeldarchäologie oder die historische Bauforschung, dem Historiker lange Zeit unbekannt gebliebene Quellenbestände zugänglich gemacht. Nachholbedarf besteht aber immer noch in der interdisziplinären Zusammenarbeit etwa mit der Literaturwissenschaft. Das Bild des Soldaten in literarischen Quellen, von Grimmelshausen bis Heinrich Böll, harrt noch einer systematischen Erschließung und Deutung im Kontext der neuen Militärgeschichte.

 

Wie hat sich die institutionelle Verankerung der Teildisziplin an den Universitäten entwickelt?

In dieser Hinsicht ist noch immer eine unbefriedigende Situation zu konstatieren. Es ist zu begrüßen, dass unter den Kollegen inzwischen die lange Zeit ängstlich gewahrte Distanz zu militärgeschichtlichen Themen in Lehre und Forschung überwunden zu sein scheint. Soweit ich sehe, würde sich aber niemand, auch nicht aus der Gruppe der jüngeren Nachwuchshistoriker, als Militärhistoriker 'outen'. Eine derartige Einlassung wird solange zu Recht als karrierepolitischer Selbstmord empfunden werden, wie es in Deutschland nur einen Lehrstuhl für Militärgeschichte gibt. Es wäre wünschenswert, ist aber angesichts der chronischen Unterfinanzierung der deutschen Hochschullandschaft nicht realistisch, wenn zumindest an einigen Universitäten Professuren für Militärgeschichte mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und vernetzt mit den jeweils am Ort bestehenden Lehr- und Forschungsangeboten errichtet würden. Der Tübinger Sonderforschungsbereich 'Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit' oder der Gießener Forschungsverbund zur Geschichte der Gewalt sind bisher noch vereinzelte Leuchttürme, die aber Schule machen sollten, dies jedoch nur können, wenn ihnen der notwendige institutionelle Rückhalt gewährt wird. Das Potsdamer Beispiel, das außeruniversitäre Forschungseinrichtungen (Militärgeschichtliches Forschungsamt / Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr) mit zwei Disziplinen (Militärsoziologie / Militärgeschichte) in einem praxisorientierten Studiengang (Military Studies) und drittmittelgeförderten Forschungsvorhaben zusammenführt, ließe sich zweifellos mit veränderter Schwerpunktsetzung auch an anderen Standorten realisieren.

 

Welche Rolle haben Ihrer Meinung nach wissenschaftliche Zusammenschlüsse und die Einrichtungen der außeruniversitären Forschung bei der Entwicklung der Teildisziplin gespielt?

Diese Frage bedarf mit Blick auf die Entwicklung, die die Mitgliederzahlen der drei wissenschaftlichen Gesellschaften innerhalb der letzten fünfzehn Jahre genommen haben, eigentlich keiner ausführlichen Kommentierung. Die deutlich mehr als ein halbes Tausend Mitglieder beweisen eindrucksvoll, dass die Arbeitskreise als Foren der Information, des wissenschaftlichen Austausches, aber auch der Präsentation von Ideen, Forschungsansätzen und Berichten zum Forschungsstand unverzichtbar geworden sind.

Schriftenreihen wie 'Krieg in der Geschichte' mit mehr als 65 Titeln in wenigen Jahren, oder die Reihe 'Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit', haben die Sichtbarkeit des Faches Militärgeschichte erheblich gesteigert. Es bedarf aber in Zukunft einer struktursicheren institutionellen Verankerung an den Universitäten, um den notwendigen administrativen Unterbau sicherzustellen und darüber hinaus für die Militärgeschichte die Synergieeffekte zu erzielen, die notwendig sind, um ihre immer noch zarten Triebe vor dem unerwarteten Frost hochschulpolitischer Schwerpunktveränderungen, finanzieller Engpässe und Stellenkürzungen in den Geisteswissenschaften zu schützen. Angesichts dieser Gefahren bilden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zur Militärgeschichte oder mit militärgeschichtlich ausgerichteten Programmen eine gewisse Rückversicherung. Sie sollten diese Aufgabe wie bereits in der Vergangenheit wahrnehmen, als die Militärgeschichte in Deutschland nur überleben konnte, weil sie in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen, allen voran dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, eine thematisch wie methodisch adäquate Heimstatt gefunden hatte. An diese historisch gewachsene Verpflichtung sollten sich die Ressortforschungseinrichtungen des Bundes und der Länder erinnern, wenn ihnen politisch gewünschte, mit den Quellen und dem methodischen Instrumentarium der Geschichtswissenschaften jedoch nicht hinreichend zu bewältigende Aufgaben gestellt werden. Gelehrte Politikberatung kann nicht die Aufgabe der Militärgeschichtsforschung sein. Die Geister der alten applikatorischen Kriegsgeschichte treten gerne in modischem Gewand auf.

 

Wie gestaltet sich das Verhältnis von akademischer Geschichtsschreibung und medialer Beschäftigung mit Themen der Militärgeschichte?

Es wäre schön, wenn die Militärgeschichte und ihre Vertreter nicht immer wieder über das von den Medien gehaltene Stöckchen der Gedenktagsproduktionen springen würden. Es bleibt wahrscheinlich ein frommer Wunsch zu hoffen, dass die militärhistorische Expertise einmal ohne unmittelbaren Anlass nachgefragt werden könnte, und dass in den Redaktionsstuben eine aktuelle Kenntnis über die einschlägig ausgewiesenen Forscher und ihre Themen vorhanden sein könnte. Vielleicht sollten Militärhistoriker von sich aus Themen anregen. Ansonsten gilt die Binsenweisheit: Keine wissenschaftliche Publikation erreicht so viele Rezipienten wie ein Statement im Fernsehen. Auch wenn sich manche komplexen Sachverhalte auf den ersten Blick nicht in sechzig Sekunden darstellen lassen, einen Versuch ist es allemal wert.

 

Welcher Autor bzw. welches wissenschaftliche Werk hat Sie persönlich nachhaltig beeinflusst?

André Corvisier, der Nestor der sozialgeschichtlich orientierten französischen Militärgeschichtsschreibung, hat sich, in bewusster Orientierung an den methodischen Ansprüchen der universitären Forschung, seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von der in Frankreich traditionell starken 'histoire bataille' erfolgreich gelöst. Ihm, dem ich seit mehr als vierzig Jahren freundschaftlich verbunden bin, verdanke ich den Zugang zu militärgeschichtlichen Fragestellungen und Quellenbeständen. Sein Hauptwerk: L'armée française de la fin du XVIIe siècle au ministère de Choiseul – Le Soldat, Paris 1964, hat mich hinsichtlich seiner Fragestellung, seines methodischen Ansatzes und seiner umfassenden Auswertung ungedruckten Materials zutiefst beeindruckt. Corvisier wagte sich bereits an die 'Militärgeschichte von untern', als in der deutschen Forschung noch immer der Blick auf das Offizierkorps dominierte.

 

Welches Buch müsste längst einmal geschrieben werden?

Eine quellenorientierte Biographie zum Wirken von Hans Delbrück, der die deutsche Militärgeschichtsschreibung aus dem Ghetto einer Generalstabswissenschaft herausgeführt hat, im Spannungsfeld von Wissenschaft, Militär und Politik vom Kaiserreich bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, erscheint mir überfällig.

 

http://www.uni-potsdam.de/db/geschichte/index.php?ID_mitarbeiter=1

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