Christian Th. Müller
Buchbesprechung
Veröffentlicht am: 
18. September 2019

Anders als bei den beiden Weltkriegen hält sich das Interesse der deutschen Historikerzunft an den Kriegen des 19. Jahrhunderts in sehr überschaubaren Grenzen. So erschienen – abgesehen von verschiedenen Sammelbänden und Spezialstudien – die letzten umfassenden Monographien zum Krieg von 1870/71 bereits im Jahr 1970.[1]

Erstmals seit beinahe fünf Jahrzehnten hat Tobias Arand nun wieder eine Gesamtdarstellung dieses für die deutsche und europäische Geschichte so wirkungsmächtigen Ereigniskomplexes vorgelegt. In sechsjähriger Arbeit entstand ein fast 700 Seiten starkes Buch, das sich nicht allein an Historiker, sondern vor allem auch an historisch interessierte Laien richtet. Wie der an der PH Ludwigsburg lehrende Autor hervorhebt, strebte er ein „Lesebuch im Wortsinne“ (21) an, das auch komplizierte Zusammenhänge ohne unnötigen Ballast verständlich macht, zugleich aber die in unterschiedlicher Weise in den Krieg involvierten Menschen und ihre Geschichte lebendig werden lässt. Neben der Forschungsliteratur hat er daher vor allem die zahlreich veröffentlichten Selbstzeugnisse – Briefe, Tagebücher und Memoiren – der Zeitgenossen ausgewertet und „häppchenweise“ entlang der Zeitachse zusammengestellt. 40 Zeitzeugen, deren Spektrum vom französischen Marschall Francois-Achille Bazaine bis zum deutschen Kriegsfreiwilligen Karl Zeitz reicht, begegnet der Leser so immer wieder. Auf diese Weise entsteht zwar keine stringente Darstellung, aber ein multiperspektivisches Mosaik, das mit seinen plastischen Schilderungen nicht nur eine packende Lektüre bietet, sondern auch für Lehrzwecke sehr gut verwendet werden kann.

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel von sehr unterschiedlicher Länge. Nach einer siebenseitigen Einleitung werden im zweiten Kapitel unter der Überschrift „‘Es prickelte mich ordentlich […]‘ - Menschen ziehen in den Krieg“ auf 14 Seiten Umfang und Abläufe der Mobilmachung sowie deren Wahrnehmung aus der Perspektive der Zeitgenossen dargelegt. Sodann wird auf gut 50 Seiten die politische Vorgeschichte des Krieges geschildert. Bemerkenswert ist dabei vor allem die treffende Charakterisierung Kaiser Napoleons III. und der Idiosynkrasien seines „bonapartistischen“ Regimes. Im vierten Kapitel, welches auf acht Seiten die Entwicklung von der Luxemburgkrise 1867 bis zum Kriegsbeginn skizziert, arbeitet Tobias Arand klar heraus, dass es dessen inneren Zwänge verbunden mit einem aufgepeitschten Nationalismus waren, aus denen – noch vor Veröffentlichung der Emser Depesche – der Entschluss der französischen Regierung zum Krieg gegen Preußen maßgeblich resultierte.

Das fünfte Kapitel „Ein ‚Sumpf von Blut und Hirn und Eingeweiden‘ – Der Krieg“ bildet mit beinahe 500 Seiten den eigentlichen Schwerpunkt des Buches. Detailliert und plastisch schildert der Autor die militärischen Operationen und ihre Rahmenbedingungen. Im Mittelpunkt stehen dabei stets die subjektiven Erfahrungen der Zeitgenossen. Viel stärker als in den meisten anderen Darstellungen werden so die Entbehrungen und Schrecken des Krieges von 1870/71 dem Leser nahegebracht. Einen besonders nachhaltigen Eindruck hinterließ bei den Zeitgenossen der Anblick der mit Toten und unversorgten Verwundeten sowie toten und verendenden Pferden übersäten Schlachtfelder. Sehr anschaulich schildert Arand darüber hinaus die großen Schwierigkeiten, eine auch nur halbwegs ausreichende Ernährung, Hygiene und medizinische Versorgung sicherzustellen.

Ein weiterer Vorzug des Buches besteht darin, dass die in der sonstigen Literatur meist eher stiefmütterlich behandelte zweite Kriegsphase ausführlich dargestellt wird. So erfährt der Leser von den Schwierigkeiten bei der Belagerung von Paris, den Hintergründen des damit verbundenen Konflikts zwischen Bismarck und Moltke, von Bismarcks bereits im September 1870 beginnenden Friedensverhandlungen mit Vertretern der französischen Republik ebenso wie von den Kämpfen gegen die in der Provinz neugebildeten französischen Armeen sowie der tendenziellen Entgrenzung der Gewalt im Zuge des Franktireurkrieges.

Das sechste Kapitel behandelt auf etwa 50 Seiten die Beendigung und die unmittelbare Bilanz des Krieges, während das siebte Kapitel schließlich noch knapp auf dessen längerfristige Prägungen und historische Einordnung eingeht. So sieht Tobias Arand im Krieg von 1870/71 „bereits ein Laboratorium der technisiert-industrialisierten Moderne und des nationalisierten, durch Massenmedien geschürten Fanatismus, die dann im Ersten und Zweiten Weltkrieg ihre die Menschheit erschütternde ganze Zerstörungskraft entfalten sollten.“(655)

So gelungen Arands Darstellung insgesamt ist, so weist sie im Detail doch eine ganze Reihe von Optimierungspotentialen auf. Das betrifft etwa die Stringenz der Argumentation. Einerseits verweist er beispielsweise zurecht darauf, wie im Sommer 1870 ein galoppierender Nationalismus maßgeblich die französische Kriegserklärung an Preußen herbeigeführt hat (124 f), andererseits deutet er die „hemmungslose nationalistische Gesinnung“ als „Frucht des Krieges von 1870/71“ (399). Hier hätte eine Berücksichtigung des mentalen Erbes der Napoleonischen Kriege und der bürgerlichen Nationalbewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts wohl zu einer anderen Einschätzung geführt.

Hinzu kommen erkennbare Unsicherheiten in der militärischen Terminologie, wenn es etwa um Gliederung und Gefechtsordnung der Truppen geht. Für den mit der Materie weniger vertrauten Leser geradezu irreführend sind Arands Ausführungen zur Rolle des Gefechts und den Begriffen Strategie und Taktik. So schreibt er: „Ziel einzelner Schlachten, […] ist die Vertreibung der gegnerischen Truppen aus einer Position, also das Behaupten des Schlachtfeldes, und damit verbunden ein taktischer Gewinn. Innerhalb der größeren ‚Strategie‘ eines Feldzuges bezeichnet der Begriff ‚Taktik‘ ein geplantes Vorgehen zum Erreichen einzelner Ziele.“ (133) Hier wäre eine Konsultation der einschlägigen Fachliteratur, vor allem der Clausewitzsche Analyse von „Zweck und Mittel im Kriege“ hilfreich gewesen.[2]

Ein immer wieder sichtbar werdendes Problem ist die nachlässige Arbeit am Text. Das betrifft sowohl die fehlerhafte Verwendung gängiger sprachlicher Bilder als auch Ausdruck und Satzbau. So heißt es auf Seite 203 Marschall Bazaine habe „Ruhm an seine Fersen geheftet“, wo dieser doch bislang immer an die „Fahne geheftet“ wurde. Manche Sätze lassen sich nur als erratisch charakterisieren, wie der folgende: „Von Franzosen erbeuteter Zwieback wird Kühnhauser durch Regen durchnässt und somit ungenießbar.“(345) Gründliches Korrekturlesen und ein kundiges Lektorat hätten den Text in dieser Hinsicht erheblich aufwerten können.

Trotz der genannten Defizite handelt es um eine insgesamt sehr lesenswerte Gesamtdarstellung des Krieges von 1870/71, die in ihrem Facettenreichtum und ihrer Multiperspektivität aus der deutschsprachigen Literatur der letzten fünf Jahrzehnte zum Thema deutlich hervorragt.

 

[1] Franz Herre, Anno 70/71. Ein Krieg, ein Reich, ein Kaiser, Köln 1970. Klaus Wiede, Der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, 2 Bde., München 1970.

[2] Carl von Clausewitz, Vom Kriege. Hinterlassenes Werk, 4. Aufl. Frankfurt/Main, Berlin 1994, insbesondere: Erstes Buch 2. Kapitel: Zweck und Mittel im Kriege.

 

Tobias Arand, 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Französischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Osburg Verlag: Hamburg 2018, 693 S., Abb., 30,00 €, ISBN 978-3-95510-167-1.


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